Demonstrieren in Sibirien

Eine heikle Angelegenheit ist sie in Russland, die Sache mit dem Demonstrieren - eine Gratwanderung, könnte man sagen. Wobei man nie genau weiß, wo der Grat eigentlich liegt. Ganze Menschenmassen wie in Europa treibt es in Russland deshalb höchst selten auf die Straße. Gut, in Russland von „Demonstrationen“ in zu sprechen, das gehört in das Reich der maßlosen Übertreibungen; eine Ansammlung weniger Menschen, die schüchtern und verängstigt ihre Meinung kundtun trifft es da schon eher.

Und damit sind wir schon bei dem Ereignis angekommen, das einen Eintrag in diesen Blog verdient: Der Tag der Arbeit, in russischen Gefilden offiziell „Tag des Frühlings und der Arbeit“ genannt. Im Übrigen ist die russische Bezeichnung äußerst irreführend: Erstens ist Irkutsk seit einem heftigen Schneesturm vor zwei Tagen (dazu später mehr) wieder strahlend weiß (von Frühling kann also keine Rede sein) und zweitens haben die Veranstaltungen zum heutigen Tag der Arbeit so viel mit Arbeit und Solidarität zu tun, wie hier als „italienischer Wein“ verkaufter Wein mit – richtig – Italien.

Jedenfalls war heute in Irkutsk – wie jedes Jahr am Ersten Mai – eine Demonstration angesetzt, die, wie passend, ausgehend vom „stadion trud“ – dem „Stadion der Arbeit“ (die Variante „Stadion der Mühen“ gefällt mir besser) über die Lenin-Straße und den Kirow-Platz zum Ewigen Feuer (Denkmal zu Ehren der gefallenen Soldaten während des Zweiten Weltkriegs) ziehen sollte.

Auch ich wollte daran teilnehmen.

Ja, ich wollte auch mitmarschieren. Banner halten und Fahnen schwenken, Parolen skandieren, klatschen, brüllen und pfeifen.

Am heuten Morgen war mein Ziel allerdings nicht die offizielle „demonstrazija“, sondern eine von Studenten und anderen freiheitsliebenden Köpfen als Gegenveranstaltung geplante „monstrazija“. Zur Erklärung: Eine „Monstration“ dient jenem Zweck, Slogans und Ziel einer parallel stattfindendenden Demonstration „künstlerisch“ aufzubereiten. Seit der ersten Veranstaltung dieser Art in Nowosibirsk vor sechs Jahren finden „Monstrationen“ alljährlich am Ersten Mai in zahlreichen russischen Städten statt – darunter seit drei Jahren auch in Irkutsk.

Ich spazierte also heute kurz vor elf Uhr am Stadion der Arbeit, vor dem sich schon hunderte Teilnehmer versammelt hatten, vorbei und hielt auf den vereinbarten Treffpunkt der „Monstranten“ neben dem Stadttheater zu. Seltsamerweise schwenkte ein Großteil der wartenden Menschen, die Banner mit Sprüchen wie „Gegen die Teuerung“ in die Höhe hielten, mit der anderen Hand Flaggen mit dem Parteisymbol von „Jedinnaja Rossija“ (Geeinigtes Russland) – der Regierungspartei. Das sagt mehr als tausend Worte, dachte ich mir.

Am Stadttheater angekommen, drückte mir sogleich Mascha, eine russische Freundin, mein Plakat in die Hand: „Aktiwirujetje ugol’!“ war darauf zu lesen. „Aktiviert die Kohle!“ Zur Erklärung: Dieser Spruch kann auf zwei Weisen interpretiert werden. Erstens wurde hiermit schon des Öfteren eine Erhöhung der Kohlefördermenge verlangt; zweitens (und das amüsierte mich) kann man darunter auch den Aufruf, Aktivkohle zu produzieren, verstehen. Gut, um ehrlich zu sein, fand auch ich einige der anderen Sprüche und Slogans witziger: „Und ich bin keine Wassermelone!“, „Lacht öfters, solange die Zähne noch da sind!“, „Für gratis Maniküre!“, „Gebt den Tauben Körner!“, „Ich will DAS!“ und „Olympia 2034 in Irkutsk“. Das Plakat mit letzterem Spruch hängte sich übrigens der Besitzer des größten Irkutjaner Nachclubs um den Hals – und das in voller Langlaufmontur und auf Langlaufskiern.

Auch ich hielt mein Plakat entschlossen in die Höhe, als wir in Richtung Stadion der Arbeit loszogen. Zuvor hatte uns Mischa, der Organisator, noch eindringlich darauf hingewiesen, weder politische noch sonstige „verfängliche“ Parolen zu skandieren, uns ruhig zu verhalten und „positiv zu sein.“

Und so marschierten wir – gut hundert meist unter-30-Jährige – mit Bannern, bunten Luftballons, Megafonen und jeder Menge positiver Energie an den Dutzenden Polizisten vorbei, die ein Auge auf die eigentliche Demonstration vor dem Stadion hielten. Das Meer aus blauen „Geeinigtes Russland“-Flaggen wirkte ein wenig irritiert ob unserer Parolen, „Hurra“-Rufe und Plakate. Die Fotografen und und Kamerateams allerdings wandten sich uns mit Freude zu.

Kurz darauf wurde Organisator Mischa von der Polizei in Gewahrsam genommen.

Als sich der Strom aus blauen Flaggen, gespickt mit einigen roten Plakaten und Fahnen verschiedener Gewerkschaften, angeführt von einer Marschkapelle, in Bewegung setzte, schlossen wir uns an. Und ernten auf dem Weg zum Ewigen Feuer erheiterte und verstörte Blicke, begeisterte Zurufe und Beifall von Passanten. Am Ziel angekommen, lösten wir uns auf.

Mit Mischa ist übrigens alles Ordnung. Im schlimmsten Falle habe er eine Strafe von 1000 Rubel (25 Euro) zu zahlen, richtete er uns aus. Weitere rechtliche Konsequenzen drohten ihm nicht.



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