Demokratische Luftschlösser

Die liberals in den USA sind verzückt und in einem teilweise geradezu ekstatischen Zustand über den Sieg bei der Wiederwahl. Sie haben allen Grund, sich zu freuen. Obamas Wiederwahl, der mit Steuererhöhungen gegen Steuersenkungen angetreten war und trotzdem deutlich siegte, kann als ein deutlicher Indikator dafür gesehen werden, dass die von Reagan und Thatcher eingeleitete "neoliberale" Ära zu Ende ist. Noch stellen ihre Apologeten die Mehrheit der Meinungsführer und -macher in den meisten entwickelten Staaten der Erde, aber der Wind beginnt sich langsam zu drehen, so langsam, wie er sich in den 1960er Jahren zu drehen begann. Auch die Abtreibungsdebatte, die Legalisierung von Marijuhana, liberale Einwanderungsregelungen, gay marriage und andere Herzensanliegen der liberalsdürften einen bescheidenen Rückenwind verspüren. Generell ist das Land wieder etwas vom conservatism abgerückt, sowohl in Fragen der Wirtschaftspolitik als auch in Fragen der Gesellschaftspolitik. Das sind die Erfolge von Obamas erster Amtszeit, und die Democrats sollten sich über sie freuen. Was sie nicht tun sollten ist Luftschlösser zu bauen und sich in dem Gefühl einzurichten, einen entscheidenden Sieg errungen zu haben, der sie auf einer legislativen Welle ans Ziel ihrer Träume bringen wird. Das hat sich für sie 2008 als Fehleinschätzung herausgestellt und 2010 für die Republicans. Beide dachten, dass nun aber endlich die eigene Seite durchschlagend gewonnen hätte. In einer Demokratie mit checks and balances gewinnt aber nie jemand durchschlagend.
In The Nation, der Zeitschrift des MSNBC Talkers Christopher Hayes, findet sich ein dafür exemplarischer Artikel unter der Überschrift "Obama won. Now it's time to change the system". Vom Gewicht einer drohenden Wiederwahl befreit werde Obama nun "mutiger" vorgehen können und solle quasi die großen Fragen angehen: eine Wahlrechtsreform, eine Arbeitsrechtreform zur Stärkung der Gewerkschaften und eine Wahlkampffinanzierungsreform. Alles drei sind Luftschlösser. Das Wahlrecht zu ändern - ein ewiger Kritikpunkt am politischen System der USA - würde genauso wie bei uns einen Konsens aller Parteien erfordern. Oh, sicher, nicht auf dem Papier. Aber wenn die Reform irgendeinen bleibenden Effekt haben soll, müssen beide Seiten sie tragen, oder es wird mit jedem Wahlsieg der Opposition immer eine Wahlrechtsreform folgen, die den jeweiligen Sieger begünstigt (und sind wir ehrlich, die Democrats erwarten, dass ein "faires" Wahlrecht sie begünstigt). Der nächste Punkt ist eine Arbeitsrechtsreform zur Stärkung der Gewerkschaften, die genauso wie die Frage der Wahlkampffinanzierung von einer völligen Überschätzung des Präsidenten zeugt. Checks and balances, remember. Gesetzesvorhaben dieser Größenordnung müssen durch den Kongress, und das heißt ein unverändert republikanisches Repräsentantenhaus und den demokratisch kontrollierten Senat; sie können nicht einfach per Executive Orderaus dem Weißen Haus verordnet werden. Alle drei im Artikel gewünschten Systemänderungen sind völlig unrealistisch aus einer Position eingebildeter Stärke nach der Präsidentschaftswahl zu verfolgen. Man sollte sich vor Augen halten, dass Bill Clinton seine größten Erfolge mit einem "feindlichen" Kongress feierte, nicht zwischen 1992 und 1994, wo beide Häuser noch von den Democrats kontrolliert wurden.
Selbst Jonathan Chait, der sonst eigentlich sehr gut durchdachte und analytische Artikel liefert, fällt in diese Falle, wenn er im New Yorker die "Millenial Generation" zur Zukunft des Landes erklärt. Diese Idee basiert auf dem Vorteil, den Obama 2008 und in etwas geringerem Maße 2012 bei den jungen Wählern unter 30 genoss. Sie wählen überwiegend demokratisch. Chait schließt daraus nun, dass allein aus demographischen Gründen künftig eine strukturelle Mehrheit für die Democrats dräue. Die gleiche Idee wird auch immer wieder im Zusammenhang mit den Latinos und Schwarzen, die einen immer größeren Bevölkerungsanteil stellen, genannt, da diese mehrheitlich ebenfalls für die Democrats votierten. Nach der Wahl ist aber vor der Wahl. Beim nächsten Mal kann sich alles bereits geändert haben. Wenn die Republicans eine freundlichere Einwanderungspolitik adaptieren und ihren Widerstand gegen Abtreibung und Homo-Ehe aufgeben beziehungsweise reduzieren (alles nicht völlig unwahrscheinliche Annahmen), dann kann sich das alles sehr schnell drehen. Nur weil jemand einmal Democrats gewählt hat, wählt er sie nicht für immer, auch wenn Menschen tendenziell gerne beständig sind. Wer glaubt, seine eigenen Werte und Wünsche bei einem anderen Kandidaten besser vertreten zu sehen, der kann diesen tendenziell wählen. Die Parteien haben immer wieder bewiesen, dass sie sich ändern können, und wenn die Republicans den eingangs angesprochenen Wandel akzeptieren und sich darauf einstellen, können sie auch wieder verlorenen Boden gutmachen. Man sollte daran denken, dass George W. Bush noch 2004 sehr hohe Zustimmungswerte unter den Latinos genoss. Deren Wendung hin zu Obama ist kein Automatismus, und die Democrats würden gut daran tun, das zu bedenken und aufzuhören, Luftschlösser zu bauen und Zeit zu verplempern.


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