Dem Boulevard mehr Ehre

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Photo: dev null

Der Boulevard ist zweifelsohne ein bedeutsamer Bestandteil des deutschen Journalismus - nicht nur des deutschen natürlich, aber von Deutschland ist hierzulande meistens die Rede, deswegen versteife man sich auf diese nationale Nische der Zunft. Der Boulevard ist nicht nur bedeutsam, er ist oftmals ausschlaggebend, prägt gesellschaftliche Entwicklungen und politische Konzeptionen manchmal mehr, als der seriösere Teil der Medien; über Berichte aus Gerichtsälen, die dann zum unaufhaltsamen Selbstläufer werden, weil der Boulevard kräftig mitmischte und aufheizte, soll gar nicht erst gesprochen werden.
Mehrmals bekommt man als publizierender Zeitgenosse zu lesen, man solle sich Themen, die in Boulevardmedien abgehandelt werden, nicht widmen - entweder sollte man sich hierfür zu fein und zu schade sein; oder, so die weniger freundlichen Einwürfe, man sei letztendlich am Ende angelangt, sei vom Schreiben zum Schmieren gekommen und habe den Mainstream betreten. Was Springer zum Sujet macht, so liest man dann, dürfe aus berufenerer Feder nicht wiederholt oder kritisiert werden - ja, nicht mal aufgreifen sollte man das agenda setting solcher Käseblätter, bekommt man dann zum Vorwurf. Laß doch diesen schnauzbärtigen Jünger antiquierter Erblehre rechts liegen, rät man einem dann, der ist doch nur eine Comicfigur der Springerjournaille, ein Produkt ganz kruder Rattenfänger!

Klar, ist er! Und deswegen soll das, was dort über ihn oder seine Geistesverwandten niedergeschrieben wird, sakrosankt sein? Der Boulevard ist ausschlaggebender als der seriöse Journalismus; Berichte über Florida-Rolfs polarisieren mehr als Statistiken zur Altersarmut - der reißerische Text zu einem Mann, der im Ausland Sozialhilfe bezieht, kann Gesetzeslagen ändern; Statistiken ändern bestenfalls ihre Erhebungsmodifikationen. RTL prägt mit seinen Boulevardkonzepten die Ansichten, die man hierzulande über Erwerbslose oder Ausländer hat; da könnten der Spiegel oder der Stern nichts ausrichten, wenn sie es denn überhaupt wollten. Explosiv macht Meinung, Zapp verschwindet ins späte Abendprogramm - der Boulevard ist die größte und beliebteste Informationsquelle hierzulande. Die leichte Informationskost ist uns lieb und teuer - ist einer Mehrheit lieb und kommt der Gesellschaft teuer, treffender formuliert.
Wenn Kolumnisten aus dem Hause Springer, die Namen bleiben heute aus hygienischen Gründen ungeschrieben, kleine Zehnsatzelaborate mit moralischem Unterton über die Republik kippen, dann sind die formulierten Zeilen freilich immer substanzlos, infantil und eigentlich zu belächeln. Bedenkt man aber, dass eine große Anzahl, vielleicht sogar die Mehrheit derer, die sich informieren wollen, bei diesen Kolumnisten und Feuilletonisten ihre Meinung abholen, dann gefriert einem dieses Lächeln jedoch. Ist es daher ratsam, sich mit intellektueller Arroganz über die Auswüchse des Boulevards zu stellen? Ruhig bleiben, weil einem der Feuilletonist MV oder der Kolumnist W intellektuell zuwider ist? Weil schon die Dummheit, die aus ihren Augen funkelt, den eigenen Intellekt beleidigt?
Diese intellektuelle Überheblichkeit, Themen, die im Boulevard gesetzt werden, um das ganze Land zu vergiften oder in Hysterie taumeln zu lassen, einfach als nicht-existent abzutun, weil sie aus der dümmsten Ecke des Journalismus stammen, ist gefährlicher, als die Ergüsse der Boulevardisten selbst. Tritt man der zähnefletschenden Boshaftigkeit, mit der der Boulevard standardisiert arbeitet, nicht entgegen, überlässt man ihm kampflos den gigantischen Raum, den er eh schon okkupiert hat. Es mag ja nicht chic sein, etwaige Schmutztexte über Ausländer, Arbeitslose, Rentner und Schmuddelkinder aufzugreifen, um sie inhaltlich zu zerlegen, in ihre dreisten Teile und unausgereiften und verblödeten Stücke zu demontieren: nur fehlt die Alternative! Denn solange man diesen Schmierfinken, die mit dem Leid und der Not anderer Leute völlig verantwortungslos umgehen, nicht den Kugelschreiber oder die Tastatur verbieten kann, solange muß man in deren geschriebenen Dreck wühlen - ob es einem intellektuell zusagt oder nicht. Man kann sich die Boulevardisten nicht einfach wegdenken, es gibt sie - viel zu viele davon!
Der Boulevard liegt nicht in Dämmerung, ist eher auf dem Vormarsch; er vermittelt die tägliche Informationsflut, sortiert aus, was Agenda wird, was unter den Tisch fallen kann. Ihn in krauser Intellektualität zu ignorieren: das heißt die Informationsquellen zu verachten, die vom Großteil der Menschen genutzt werden - wer Springer und Mitangeklagte mitleidig abtut und lieber vernachlässigt sähe, der erduldet sie und zieht sich dort intellektuell verbockt zurück, wo es den Intellekt eigentlich dringlich bräuchte.


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