"Soeben hat der Historiker Hans-Ulrich Wehler das Deutschland-Buch von Thilo Sarrazin in der „Zeit“ kommentiert. Es ist nicht untertrieben zu sagen, dass dieser Beitrag der Debatte eine völlig neue Wendung gibt.Zum Gesagten sei angemerkt: Schützenhilfe aus berufenen Munde für Sarrazin. Wehler, der Verfasser der fünfbändigen "Deutschen Gesellschaftsgeschichte", springt dem dilettantischen Erbbiologen bei. "Anstatt die schwer zu widerlegenden Befunde Sarrazins zur Bilanz der Einwanderung anzuerkennen, verschanze man sich hinter Einwänden gegen Erbbiologie", zitiert Kaube Wehler. Schwer zu widerlegen! und Verschanzen hinter Sarrazins Erbbiologie!, stehen als Kampfbegriffe gegen Sarrazins Kritiker im Raum. Ist der "für rechtspopulistische Neigungen völlig unverdächtige Linke" Wehler ein objektiver Beobachter?
Hans-Ulrich Wehler gehört zu den besten Kennern dessen, wovon Sarrazin handelt, der sozialen Schichtung in Deutschland nämlich. Und er bezeichnet das Buch nun als „das Reformplädoyer eines geradezu leidenschaftlichen Sozialdemokraten“. Wehler muss es wissen, er ist selbst ein Linker: völlig unverdächtig rechtspopulistischer Neigungen, unanfällig für Irrationalismen - Wehler hat einst den Historikerstreit gegen Relativierungen des Nationalsozialismus in Gang gebracht -, unempfänglich für eine elitäre Missachtung von Unterschichten."
- Jürgen Kaube, Frankfurter Allgemeine vom 8. Oktober 2010 -
Die Komplimente Kaubes lassen das freilich annehmen. Doch ganz so objektiv und so unvoreingenommen, scheint Wehler nicht zu sein: Historiker werfen ihm vor, eine Apologetik zu bedienen, die einst weiße Herrenmenschen zur Legitimation kolonialen Sendungsbewusstseins anwandten. Dieser Vorwurf rückt den "Linken Wehler" in eine Gesinnungsgenossenschaft zu Sarrazin, der die geistige Besserstellung des europäischen Menschen gegenüber Arabern und Moslems, noch etwas biogenetisch herausgeputzt hat, während Wehler sich dieserlei Erklärungsmuster ausspart. Joachim Zeller, Autor des Buches "Bilderschule der Herrenmenschen", arbeitet Wehlers krude Thesen folgendermaßen heraus:
"Die nichtwestlichen Regionen des Globus hätten "aus Mangel an einem hinreichenden endogenen Entwicklungspotential durch den westlichen Imperialismus gewaltsam an die moderne Welt" angeschlossen werden müssen. Die deutsche Arbeitspolitik in den Kolonien habe gar nicht anders gekonnt, "als die Einheimischen in einem langwierigen Disziplinierungsprozeß an regelmäßige Arbeit im europäischen Sinn zu gewöhnen". Solche kruden modernisierungstheoretischen Argumentationsmuster ins Feld zu führen, die den Kolonialismus als eine frühe Form der Entwicklungshilfe verklären, ja das Bild vom "Müßiggang des Negers" heraufzubeschwören, das war bisher die Domäne Ewiggestriger."
Hinter solcherlei Kritik wittert Wehler den "unheilvollen Einfluss von Foucault", durch den es erst möglich wurde, die Geschichte der modernen Welt als eine Geschichte von Disziplinierung und Inhaftierung zu entblättern; Foucault hat eine Geschichte der Macht geschrieben, in der diese als penetranter Selbstzweck erörtert wurde. Anders gesagt: weil mit den Augen derer, die mit Foucault argumentieren, der Kolonialismus nicht als positives Geschehen zugunsten der kolonisierten Völker gesehen werden kann, sondern dergestalt, dass Macht immer um Legitimationsmotive ringt, wittert Wehler - der Überschrift Zellers gemäß - ein "diffuses foucaultianisches Lebensgefühl".
Die völlig neue Wendung, die die Frankfurter Allgemeine in der Sache Sarrazin heraufbeschwören will, ist folgende: Sarrazin erhält Beistand von jemanden, der aus einer arg eurozentristischen Sichtweise heraus, das protestantische Arbeitsethos als Segen für unterjochte Völker umschreiben möchte. Von einem Historiker also, der in Fragen Sendungsbewusstsein westlicher Völker den Sichtweisen Sarrazins gar nicht abhold zur Seite stehen kann. Beiden geht es um europäische Leitkultur; beide sehen die westliche Hemisphäre in einer geistigen Vorreiterrolle; beide glauben sie in fremder Kultur nur primitiven Geist zu erkennen. Die große Wende ist letztlich, dass sich Gesinnungsgenossen gegenüberstehen - zwei stockkonservative Herren, die besonders stolz sind, im prädestinierten Teil der Welt walten zu dürfen.
Unerwartet ist es daher bei alldem nicht, dass Hans-Ulrich Wehler auch für die BILD-Zeitung zum Gewinner des Tages (am 8. Oktober 2010) taugte, dass man ihm lobend eine "weise Wortmeldung!" als Fazit nachschob. Die dortige Leserschaft kennt Wehler bestimmt nicht; aber er schimpft sich "Historiker" - einer mit Titel und Befähigung, der Sarrazin verteidigt: jetzt ist es endgültig auf dem Tisch... Sarrazin muß einfach recht gehabt haben!