De dicto

"Der Anteil der Hartz-IV-Kinder in Berlin ist doppelt so hoch wie im Rest der Republik.
Wie erklären euch eure Eltern, dass ihr arm seid?"
- V. Schlesier, BILD-Zeitung vom 1. März 2012 -
Zum Gesagten sei angemerkt: Die neoliberale Weltanschauung nennt die Eigenverantwortung als Säule eines funktionierenden Gemeinwesens - das ist Quatsch, denn (all-)gemein ist in einem eigenverantwortlichen System kaum noch etwas. Außer Verluste von Konzernen oder Banken, die man auch weiterhin vergesellschaftet. Im Neoliberalismus gibt es kein intaktes Gefüge miteinander agierender Menschen und Gruppen - es gibt gegeneinander abgewogene Interessen, die von Vertragspartnern mit freiem Willen eigenverantwortlich vertreten werden. So gesehen ist alles was geschieht, immer das Resultat eigener Bemühungen oder eigener Unzulänglichkeiten.

In diesem Sinne sollen die Eltern erklären, warum ihre Kinder arm sind. Dass es auch die Eltern sind, weil Kinderarmut die Konsequenz elterlicher Armut ist, wird ganz im Sinne der herrschenden Sprachregelung, nicht erwähnt. Aber es bleibt dessenungeachtet bei den Eltern hängen, ihren Kindern zu erklären, warum sie mittellos sind. Weil wir keine Arbeit haben oder nur eine, mit der man kaum etwas verdient, könnten die antworten. Warum arbeitest du dann nicht, warum verdienst du dann nicht mehr, könnten die Kinder fragen. Die Eltern haben nicht die Armut zu erklären - sie haben sich zu erklären. Und die Armut liegt damit in ihrer Eigenverantwortung. Eigentlich wäre es Aufgabe derjenigen, die die Gesellschaft aktiv gestalten, diesen Kindern Rede und Antwort zu stehen.

Die Armut haben die Eltern dann auch nicht erklärt. Es geht nur um die "Beschreibung" von Hartz IV-Alltagen und dem üblichen Schmu - einen Hund für 900 Euro konnte sich eine arme Mutter ja doch leisten. So schlecht geht es denen nicht! Und die dazugehörige Überschrift, sie will deutlich machen, dass es die eigene Entscheidung ist, Hartz IV zu beziehen, arm zu sein. Werden Sie doch einfach reich! Entscheiden Sie sich dafür und werden Sie noch heute vermögend! Werbeslogans ignoranter Eigenverantwortungsapologeten, die dekadent auch für soziale Schieflagen angewandt werden. Die Eltern sollen erklären, denn sie sind es, die die Kinder arm machen - nicht die Wirtschaft, nicht die Politik, nicht das gesellschaftliche Versagen. Im Neoliberalismus versagen nur Marktteilnehmer, nie aber der Markt. Die Eltern erklären nicht ihre Armut, die man ihnen erteilt hat, sie sollen ihr Versagen erklären, für das sie eigenverantwortlich sind.


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