De auditu

Mit dem Verdachtsmoment Kindesmissbrauch ist man zuweilen schnell zur Hand. Dies hat dramatische Auswirkungen, wie schon Mitte der Neunzigerjahre Katharina Rutschky und Reinhart Wolff unter dem Label "Missbrauch mit dem Missbrauch" verschlagwortisierten - nicht ohne in den Ruch pädophiler Sympathie zu geraten. Was bei der Debatte zu kurz kam: der Kindesmissbrauch als Begriff ist so in den alltäglichen Sprachgebrauch eingeschliffen, so selbstverständlich geworden, dass die darin enthaltene Unstimmigkeit selten Beachtung findet, unmerklich verwischt: denn wenn es möglich ist, ein Kind zu missbrauchen, so muß es korrelativ dazu auch einen Gebrauch von Kinder geben.

Wie aber gebraucht man Kinder? Es dürfte mehrerlei Varianten geben, bei dem der Eindruck von Kindesgebrauch gegeben scheint: Familien aus der Unterschicht wirft die Mittelschicht und die Elite oftmals vor, Kinder nur zu bekommen, um Kindergeld und einen zusätzlichen Regelsatz abzustauben - wäre dem so, würden Kinder dazu gebraucht, ein wenig mehr Geld in der Tasche zu haben. Solche Fälle gibt es zweifellos - aber es geht auch andersherum, es gibt auch eine andere Sichtweise, die man eher denen vorwerfen könnte, die nach Unten treten: deren Kinder müssen oft glänzen, als Aushängeschild ihrer Eltern fungieren, erlernen Klavier zu spielen, gute Noten schreiben und einen Hang zur freudigen Deklination lateinischer Adjektive aufweisen - solche Kinder werden als Korrektiv elterlichen Versagens, eigener jugendlicher Erfolglosigkeit gebraucht; solche Kinder sollen den Eltern Lob und Glückwünsche sichern. Zwei subjektive, ohne Anspruch auf Rechtmäßigkeit herangezogene Gebrauchsverdächtigungen, bei denen niemand auch nur im Traum auf den Gedanken käme, es handelte sich um Missbrauch.

Kindesgebrauch, ganz unabhängig von den oben genannten Vermutungen hierzu, könnte schlicht bedeuten, dem Kind eine Funktion zuzuordnen, ihm ein kindgerechtes Leben im Namen von Bildung, guter Zukunft oder Elternstolz zu verwehren. Man gebraucht das Kind, um besser zu leben oder als Vater oder Mutter angesehener zu sein - das Kind wird zum Objekt, wird verzwecklicht, zum Gebrauchsgegenstand. Kindesgebrauch, so könnte man nach dieser Definition behaupten, findet heute in vielen Alltagsentscheidungen statt, wo Kinder zu Lernbehältern degradiert werden, wo man sie zwecks Bändigung ihres lästigen Daseins, in Kurse oder Ganztagsschulen steckt, ihnen kindesgemäße Freiheit entzieht, sie zum Werbeträger eines heilen Familienidylls erwählt.

Wiewohl der alltäglich benutzte Missbrauchsbegriff unter bösartigen Vorzeichen verstanden wird, könnte man dem Gebrauch, den es alltäglich gesprochen gar nicht gibt, den es jedoch dialektisch gedacht geben müsste, zuschreiben, nicht böser Absicht zu sein - man meint es gegenteilig vielleicht auch nicht gut: eher vernünftig und zweckmäßig. Dass dabei die kindliche Gemütslage oftmals verkannt, dass kindliche Freiheit eingezäunt wird, rückte den Gebrauch in ein fadenscheiniges Licht. Hier entsteht die Schnittstelle, an der Gebrauch und Missbrauch verquirlen; hier wird der Gebrauch das, was er eigentlich nicht sein sollte: Missbrauch! Kinder, Menschen überhaupt, zu gebrauchen: das ist kein Pendant zum Missbrauch - es ist dasselbe, wenn auch manchmal aus einem anderen Impuls heraus. Derjenige, der Kinder missbraucht, gebraucht sie eben zur Befriedigung seiner Triebe - und derjenige, der Kinder gebraucht, missbraucht sie im Namen einer abstrakten Vernunft.


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