Das wirklich ungelöste Rätsel von Frau K.

Das wirklich ungelöste Rätsel von Frau K.
Das wirklich ungelöste Rätsel von Frau K.

Bis heute habe ich kein Wort über den Fall von Natascha Kampusch (http://de.wikipedia.org/wiki/Natascha_Kampusch) verloren, weil
1. mir schien, dass ohnehin zuviel darüber berichtet wird,
2. mir die Inhalte des Boulevards i.d. Regel gleichgültig sind und
3. mir beim Voyeurismus des kollektiven Mitleids immer übel wird.

Somit soll hier nicht die Frage der Einzel- versus Mehrtäterschaft oder die mögliche Existenz eines Kinderpornorings abgehandelt werden.
Es soll auch nicht über die Beweggründe von Helfern, Beratern, Experten, Journalisten und Politikern spekuliert werden, die Natascha Kampusch zu TV-Interviews, öffentlichen Briefen, Talkshows, sowie Buch- und Filmprojekte und Talkshows bewegt (oder verführt) haben, weil das einerseits in Ermangelung von Detailkenntnis wenig sinnvoll wäre und andererseits nur Relevanz für den Einzelfall und keine gesellschaftliche Bedeutung hat.

Das wirklich „ungelöste Rätsel“ des Falles ist die zähe Persistenz, mit der er sich, im Gegensatz zum Fall Fritzl (http://de.wikipedia.org/wiki/Josef_Fritzl), immer wieder in die Debatte mengt. Und dass es sich bei den Wortführern nicht um auflagengeile Gratismedien sondern honorige Repräsentanten unseres Staates handelt.

Chronik:

Am 2. 3.1998 wurde Natascha Kampusch um etwa 07.30 Uhr am Rennbahnweg in Wien-Donaustadt entführt. Am 23. 8.2006 gegen 13.00 Uhr konnte Kampusch ihre Gefangenschaft beenden und ihr Entführer starb am Abend desselben Tages auf den Schienen der S-Bahn.

Der später abgelöste Chef des Bundeskriminalamts, Herwig Haidinger übt Kritik an den Ermittlungen.

Die Staatsanwaltschaft stellte am 21.9.2006 mit der Feststellung, dass es sich bei ihrem Entführer um einen Einzeltäter gehandelt hat, das Verfahren ein. Ein zweites Verfahren gegen unbekannte Täter wird am 15.11.2006 eingestellt. 
Nachdem die Mitleids- und Bewunderungsorgien für das Opfer abgefackelt waren begann es zu brodeln.

2007 veröffentlichte der Richter (Landtagsabgeordneter, Bundesratsabgeordneter und glückloser Kandidat für die Bundespräsidentschaftswahlen 1998, 2004 und 2010) Martin Wabl "Natascha Kampusch und mein Weg zur Wahrheit" und beschuldigte auch Nataschas Mutter der Mitschuld. Diese klagte auf Unterlassung, und bekam im November 2008 vor dem Bezirksgericht Recht.

Am 10.2.2008 setzt das Innenministerium eine „Evaluierungskommission“ für den Fall Natascha Kampusch ein, die am 9.6.2008 ihren Abschlussbericht vorlegt. Zur Aufklärung möglichen polizeilichen Versagens und politischer Vertuschung wurde am 3. 3.2008 auch ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss eingesetzt, der aber nach der vorzeitigen Auflösung des Regierung Gusenbauer/Molterer am 18.9.2008 „seine Arbeit kurz vor dem Kapitel „Kampusch" abbrechen“ musste.
Am 26.1.2009 wird die Kommission nach Aufnahme neuer Ermittlungen in der gleichen Besetzung erneut einberufen, um die Erhebungen begleitend zu kontrollieren. In der Folge drängt die Kommission auf eine Weiterführung der Erhebungen und insbesondere zwei Kommissionsmitglieder gehen in die Medien. Ludwig Adamovich (Ex-VGH Präsident) beschuldigte das familiäre Umfeld von Kampusch und wurde später dafür wegen übler Nachrede in erster Instanz verurteilt. Auch Ex-OGH-Präsident Johann Rzeszut erhebt in den Medien wiederholt schwere Beschuldigungen und beharrt auf der Mehrtätertheorie.
Am 29.9.2010 löste er mit einem 25-seitigen Bericht (http://www.erstaunlich.at/images/pdf/priko01.pdf) Ermittlungen gegen fünf Staatsanwälte aus, wobei diese Causa am 24.9.2011 von der Justiz abgeschlossen wurde. Kurz danach kündigte Justizministerin Karl aber eine erneute, unabhängige Prüfung an.
Am 21.10.2010 beantragten FPÖ, Grüne und BZÖ die „Einsetzung eines Untersuchungsausschusses zur näheren Untersuchung der politischen und rechtlichen Verantwortung im Zusammenhang mit dem staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsverfahren im Abgängigkeitsfall Natascha Kampusch“. Der Antrag wurde vorerst von SPÖ und ÖVP abgelehnt, danach wurde jedoch eine erneute Prüfung in einem Unterausschuss des Innenausschusses des Parlaments zur Causa Kampusch vereinbart. Am 1.12. 2011 nahm der Unterausschuss die Arbeit auf.
Als sich im aktuellen (Februar 2012) parlamentarischen Untersuchungsausschuss über staatsnahe Korruption die Meldungen überschlagen geht der Vorsitzende des Unterausschusses zur Untersuchung des Falles Kampusch, der ÖVP Abgeordnete Werner Amon, an die Öffentlichkeit: "Einzeltätertheorie nicht mehr zu halten, Selbstmord des Entführers Wolfgang Priklopil nicht ausreichend untersucht". Ein endgültiger Bericht wird erst Ende März erwartet.

Diejenigen, die trotz der langen Einleitung bis hier her gelesen haben, muss ich – wie angekündigt – enttäuschen: 
Ich habe natürlich auch keine Ahnung was wahr war.

Aber, etwas anderes gibt mir zu denken:

innerhalb von fast sechs Jahren scheint es keinen Grundkonsens zwischen Instanzen und Proponenten unserer Gesellschaft zu geben, ob es sich hier um:

a.) eine schlampig aufgearbeitete Entführung,
b.) um die Vertuschung eines österreichischen Falles Dutroux
   (http://de.wikipedia.org/wiki/Marc_Dutroux) durch Teile von Exekutive,
   Legislative und Judikative oder
c.) irgendwas dazwischen handelt.

Die Parallele zu Belgien ist auch deshalb so beunruhigend, weil die pannenhafte Aufarbeitung derartige Fälle auch schwerwiegende gesellschaftliche Auswirkungen hat: (Zitat Wikipedia:)
Viele Bürger wurden mit der Zeit dem Staat gegenüber misstrauisch. Sie glauben, dass die Reichen und Mächtigen des Landes gedeckt werden, während der Staat, Justiz und Polizei die Normalbürger nicht zu schützen wissen.

Für mich ist das auch einer der Gründe, dass es den belgischen Bürgern offenbar schon ziemlich egal war, dass sie 535 Tage keine Regierung hatten. http://sprechstunde.meinblog.at/?blogId=48236  

Wenn das Grundvertrauen in die eine Gesellschaft konstituierenden Institutionen so weit verloren gegangen ist, dass man nahezu alles für möglich hält, dann bahnt man den Weg dafür, dass passieren wird, was man für unmöglich hält.

Meine persönliche Schlussfolgerung aus der enormen Diskrepanz zwischen den oben angeführten Szenarien a.) und b.) lautet:

  • Die trotz Befassung nahezu sämtlicher einschlägiger staatlicher Institution (Polizei, Innen- und Justizministerium, Staatsanwaltschaft, Parlament, …) nicht zu einem Konsens führende Groteske deckt für mich gegenläufige Interessen mächtiger Strömungen in unserem Staat auf, die offenbar von dem Dauerbrenner Kampusch profitieren.
  • Dass ausnahmsweise hier nicht der Boulevard das Heft in der Hand hat sondern der Fall immer wieder durch hohe Justizbeamte und Parteienvertreter angeheizt wird, spricht dafür, dass es eigentlich nicht um den Fall an sich geht und legt den Verdacht nahe, dass primär von anderen Sachverhalten abgelenkt wird.
  • Entweder weiß man was, kann es aber nicht beweisen, oder
    man benützt die Unklarheiten nur als Waffe

Wie der thematisch nahe liegende Fall Dutroux, erinnern mich die medialen Vorgänge (Buchpräsentationen, Untersuchungsausschüsse, Rücktritte, Selbstmord, ...) auch an den inhaltlich völlig anders gelagerten Fall Lucona (http://de.wikipedia.org/wiki/Lucona) wo es 16 Jahre bis zu einem Urteil dauerte und am Weg dorthin sehr viele politische Verwicklungen (Club 45, Nationalratspräsident Gratz, Innenminister Blecha, …)

Kommt uns das späte Resümee der Presse zum Fall Lucona nicht bekannt vor?
„Jeder war jedem dienstbar . . .“
In einem Zusatz schreibt der grüne Mandatar Pilz: „Wichtige Teile der Bürokratie waren gemeinsam mit hohen Politikern in einem bisher unbekannten Ausmaß bereit, die Aufklärung eines kriminellen Vorgangs zu behindern und die strafrechtlich Verantwortlichen vor Verfolgung zu schützen. Von den Spitzen der Staatspolizei bis zur Oberstaatsanwaltschaft existierte im Fall Lucona ein dichtes Netz aus Beziehungen . . .“
http://diepresse.com/home/politik/innenpolitik/weltbisgestern/350317 
Und somit ist die wahre Bedeutung des „Falls Kampusch“ seine aufdeckende Wirkung.

Er deckt das „Beziehungsgeflecht“ Österreich auf.

Da aber dieser Aspekt offenbar von keinem der Sprecher so wirklich ausgesprochen werden kann (höchstwahrscheinlich weil die Sprecher selbst  durch dieses Beziehungsgeflecht „etwas geworden sind“ oder zumindest dadurch „bleiben wo sie sind“) bleibt es bei Andeutungen, Vermutungen und Verdächtigungen
Diese Diskussion hat jedoch einen gefährlichen Effekt auf das, bereits durch Dutzende Skandale und Korruptionsfälle zerschossene, Grundvertrauen in unsere Gesellschaft.

Das wirklich ungelöste Rätsel im Fall Kampusch ist also die Frage, 
weshalb die Entscheidungsträger unseres Staates diese Gefahr nicht erkennen können oder wollen bzw. sich nicht zu einer konsensualen Sicht durchringen können, die die Diskrepanz zwischen Szenario a.) und b.) etwas verkleinert und somit zumindest ein Signal gibt, dass ggf. Fehler, Pannen und Instrumentalisierungen passieren können, diese aber nicht an den Kern der Struktur gehen. 
Wittgenstein hat in seinem Tractatus den Satz gesagt: 
Wovon man nicht reden kann, darüber sollte man schweigen... 
würde man dies immer beherzigen, wären viele Blogs plötzlich leer.
Andererseits muss es trotz aller Unsicherheit möglich sein, sich darauf zu einigen, ob die Welt untergeht oder nur ab und an ein Schiff ....

Links:
http://www.peterpilz.at/vorwort-1.htm  
http://www.peterpilz.at/die-affaere.htm  
http://www.bmi.gv.at/bmireader/documents/557.pdf 
http://diepresse.com/home/politik/innenpolitik/723564/Das-UAusschussEinmaleins  
http://derstandard.at/1330389794140/Amons-Vorstoss-Politik-reagiert-zurueckhaltend-bis-befremdet  
http://derstandard.at/1330389821859/Kritik-am-Ausschussleiter-Kampusch-Staatsanwalt-bezweifelt-Amons-Fachkenntnis 


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