Das Recht auf lebenslange Lust

Das Recht auf lebenslange Lust

Charlotte von Stein kennt die Bedürfnisse alter Menschen. Sie weiß, dass die nicht nur lauten: essen, schlafen, Kaffee trinken, vielleicht gefüttert oder gewickelt werden. Und sie kümmert sich darum. «Das sexuelle Interesse endet erst mit dem letzten Atemzug», sagt von Stein.

Das wissen auch die Mitarbeiter von Pflegeheimen, vor allem die Mitarbeiterinnen. Sie sind für viele alte Männer der einzige weibliche Kontakt, fassen sie an, waschen sie, auch zwischen den Beinen. Sie «erwischen» sie beim Masturbieren, werden gebeten, die Porno-DVD einzulegen oder auch mal nach einem Vibrator gefragt, wenngleich Frauen seltener darüber sprechen.

Männer hingegen gehen auch im Alter offensiv mit ihren Bedürfnissen um. Eine Erfahrung, die auch Pflegewirtin Manuela Kästner gemacht hat, die schon 2006 ihre Diplomarbeit über Sexualität in Pflegeheimen schrieb. Noch immer habe sich die Altenpflege nicht darauf eingestellt, dass alte Menschen sexuell aktiv sind oder sein wollen, moniert sie in einem aktuellen Interview mit der Zeitschrift Senioren-Ratgeber.

Sexualität im Altenheim bleibt tabu – und das, obwohl es alle Beteiligten betrifft, alte Frauen nicht ausgeklammert. Einer Studie zufolge haben 30 Prozent von ihnen nachts erotische Träume.

Die Sexualbegleiterin wird als Prostituierte gestempelt – zu Unrecht

Charlotte von Stein hat es versucht. 70 Heime in Hannover schrieb sie an, um ihre Angebote vorzustellen. Das sind zum Beispiel Gesprächskreise, in denen Pflegerinnen und Pfleger ihre Unsicherheit ansprechen können, Rat für die tägliche Arbeit bekommen und erfahren, wie sie als Sexualbegleiterin helfen kann.

«Es hat sich keiner gemeldet. Es gibt auch eine Webseite für Senioren in Hannover, dort wird meine Anzeige einfach nicht freigeschaltet, und eine Seniorenzeitung will sie nicht drucken, weil sie Angst hat, andere Kunden zu verlieren.» Keine Frage: Die Sexualbegleiterin wird umgehend in die Prostitutionsecke geschoben. Dabei bietet sie auf ihrer Webseite einen ganz anderen Service an.

Für Charlotte von Stein ist klar: Alterssexualität bleibt ein Riesentabu, während das Thema bei Behinderten inzwischen akzeptiert ist. Im norddeutschen Trebel werden Sexualbegleiter für Behinderte ausgebildet. Sie wollte sich auf Senioren spezialisieren und wurde nicht angenommen am Institut – auch, weil von Stein keinen Geschlechtsverkehr im Repertoire hat. In den Nachbarländern Österreich und der Schweiz hingegen gibt es sogar staatlich geförderte Projekte zur Sexualbegleitung für alte Leute.

«Geschlechtsverkehr ist gar nicht wichtig»

Charlotte von Stein ist in Deutschland eine von wenigen. Weil es kein Feedback aus den Pflegeheimen gab, sind ihre Kunden ausschließlich selbstbestimmte Männer, meistens Witwer. Schon beim ersten Anruf erfahren sie, Geschlechtsverkehr, Küsse und Oralsex wird es nicht geben, Nähe und Berührungen hingegen schon, auch eine «Handerleichterung», wie von Stein es nennt, ist in Ordnung. Ob es dann zum Akt komme oder nicht, sei für die Männer gar nicht wichtig.

«Meistens beginnt das Treffen mit einem ganz normalen Kaffeetrinken, ein lockeres Kennenlernen, bei dem ich viel über die Lebensgeschichte erfahre und darüber, wonach er sich sehnt. Das ist ganz, ganz wichtig.» Den Übergang vom Plausch zur Intimität übernimmt dann sie. «Die Männer sind natürlich absolut verunsichert. Es gehört zu meinem Service, den Bogen hinzubekommen», erklärt von Stein. Schließlich ist vorher abgesprochen, dass die Männer sich Berührung wünschen.

Völlig unsichtbar ist das Thema Sexualität und Alter auch in Deutschland nicht. Erst im Januar hat das Demenz-Servicezentrum in Köln eine Tagung zu Sexualität bei Demenzkranken organisiert, wo auch der Umgang in Pflegeheimen thematisiert wurde. Ein besonders relevanter Aspekt, weil sich mit Demenz die Sexualität häufig verstärkt und aggressive Züge annimmt, wie auch Charlotte von Stein erfahren hat. Sie weiß damit umzugehen.

Die Vision: Sexualbegleiter von der Pflegekasse finanziert

Trotz solcher Fachtagungen behandeln Pflegeheime die Sexualität ihrer Bewohner eher defensiv, das räumt auch Volker König ein, Sprecher der Diakonie Rheinland Westfalen Lippe. «Klar ist das ein Thema. Das weiß jeder, der in der Pflege arbeitet, und jeder Heimleiter hat da auch seine Praxis», sagt er. Interne Fortbildungen oder Gesprächskreise, wie Charlotte von Stein sie vorschlägt, bietet der Verband seinen Mitarbeitern jedoch nicht. In der Altenpflegeausbildung sei die Sexualität hingegen ein fester Bestandteil. «Gerade junge Leute müssen überhaupt erst einmal herangeführt werden, dass alte Menschen noch sexuell aktiv sind und welche Bedürfnisse sie haben», sagt König. Die Sexualität eines 80- sei eben nicht die eines 18-Jährigen.

Was ihn ärgert, ist, dass dieses sensible Thema in der Öffentlichkeit immer auf Prostitution zugespitzt wird. Deshalb schweige man lieber. «Wie ließe sich eine gängige Praxis vermitteln? In erster Linie wollen wir die Menschen schützen und deshalb nicht alles erzählen.»

Eigentlich teilen die Diakonie und die Sexualbegleiterin dieselbe Sorge: Dass Alterssexualität in der Schmuddelecke landet. Charlotte von Stein hat die Vision, dass «Sexualbegleiter» eine anerkannte Weiterbildung mit festgelegten Inhalten wird, finanziert von Heimträgern oder der Pflegekasse. Es könnte ähnlich sein wie bei den Seniorenassistenten, die Einkäufe erledigen und die alten Leute ins Theater begleiten – nur eben für die intimen Momente.

Quelle:
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Sex im Alter – Das Recht auf lebenslange Lust


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