„Das Recht auf die Stadt“ (Blätter für deutsche und internationale Politik)

„Das Recht auf die Stadt“ (Blätter für deutsche und internationale Politik)In der Augustausgabe der „Blätter für deutsche und internationale Politik“ ist ein Artikel von mir erschienen. Jetzt gibt es den Beitrag auch online:

Holm, Andrej 2011: Das Recht auf die Stadt. In: Blätter für deutsche und internationale Politik, 8/2011, 89-97

Das Recht auf die Stadt

von Andrej Holm

Unter dem Stichwort „Right to the City“ – „Recht auf die Stadt“ – konstituieren sich weltweit neue städtische Protestbewegungen, die gegen die neoliberale Hegemonie eigene Ansprüche an den städtischen Entwicklungen einfordern. In New Orleans fordern die Mieter der Sozialwohnungssiedlungen die Rückkehr in ihre preiswerten Wohnungen, in Madrid protestieren Sexarbeiterinnen und Bewohner gegen die Verdrängung aus ihrem Stadtteil Nachbarschaft, in Istanbul wehrte sich eine Roma-Nachbarschaft gegen den Abriss einer ganzen Siedlung, in kleineren deutschen Städten wie Wuppertal mobilisieren breite Bündnisse gegen das kommunale Spardiktat, und in Hamburg besetzten Künstler die letzten historischen Gebäude im Gängeviertel, um die Neubaupläne eines Investors zu verhindern. Doch so vielfältig die einzelnen Aktivitäten und Forderungen sind, es gab kaum einen städtischen Protest, der nicht auf die Parole „Recht auf die Stadt“ zurückgegriffen hätte.

Wie aber ist diese Attraktivität des „Rechts auf die Stadt“ zu erklären, und welche Potentiale birgt der Ansatz für städtische soziale Bewegungen?
Inhaltlich geht die Forderung auf den französischen Soziologen Henri Lefebvre zurück, der schon in den 1960er Jahren das „Recht auf die Stadt“ als ein „Recht auf Nichtausschluss“ von den Qualitäten und Leistungen der urbanisierten Gesellschaft konzipierte. In seinem programmatischen Text „Le droit à la ville“ von 1968 beschreibt Lefebvre die kapitalistische Stadt, insbesondere ihre sozioökonomische Segregation und die damit einhergehenden Entfremdungserscheinungen wie die „Tragik der banlieusards“, die in weit vom Zentrum entfernte „Wohnghettos“ vertrieben wurden.[1]Vor diesem Hintergrund fordert er ein „Recht auf die Stadt“ als kollektive Wiederaneignung des städtischen Raums durch buchstäblich an den Rand gedrängte Gruppen.

Lefebvres Aufruf, das „Recht auf die Stadt“ einzufordern und die Stadt zu verändern, bezieht sich dabei gleichzeitig auf die Stadt als physische Form und die mit ihr in Wechselwirkung stehenden sozialen Verhältnisse und Praktiken. Gemeint sind damit alle Formen des diskursiven und instrumentellen Entwurfs künftiger städtischer Entwicklungen. Das „Recht auf die Stadt“ – so ließe sich dieses Verständnis zusammenfassen – beschränkt sich also nicht auf die konkrete Nutzung städtischer Räume, sondern umfasst ebenso den Zugang zu den politischen Debatten über die künftigen Entwicklungspfade.

Vor dem Hintergrund der fordistischen Stadtentwicklung von Paris benennt Lefebvre zunächst das „Recht auf Zentralität“ und das „Recht auf Differenz“als die zentralen Bestandteile eines Rechts auf die Stadt. Das Recht auf Zentralität steht für den Zugang zu den Orten des gesellschaftlichen Reichtums, der städtischen Infrastruktur und des Wissens. Das Recht auf Differenz deutet die Stadt als Ort des Zusammenkommens und der Auseinandersetzung. In anderen stadtsoziologischen Debatten ist von der „Integrationsmaschine Stadt“ die Rede, die aus der Fähigkeit, Verschiedenartigkeiten zu verdichten, einen individuellen und gesellschaftlichen Mehrwert zieht.

Eine dritte Ebene des Rechts auf die Stadt orientiert sich an den utopischen Versprechungen des Städtischen und reklamiert ein Recht auf die schöpferischen Überschüsse des Urbanen. Hintergrund sind die Erfahrungen des fordistischen Klassenkompromisses, der in den funktionalen, modernen Stadtplanungen „unbefriedigende Lösungen für die sozialen Grundbedürfnisse“ hervorbrachte. So wurde etwa das „Recht auf Wohnung“ in den Projekten des Massenwohnungsbaus unter Verlust anderer städtischer Qualitäten bedient. Insbesondere die Stadt als offener Raum des kulturellen Austausches und der Kommunikation war – so Lefebvres Argumentation – in den Wohnungsbauprojekten nicht zu finden.

Gegen die neoliberale Stadt – mehr als ein Recht auf Wohnung

Seit den späten 1990er Jahren wurde Lefebvres Forderung sowohl in der Geographie und Stadtforschung, als auch in sozialen Bewegungen vielfach wieder aufgenommen.[2] Hintergrund ist nicht länger, wie bei Lefebvre, die fordistische Stadt der Moderne, sondern die „neoliberale Stadt“, die mit neuen Produktionsweisen in Verbindung steht, eine neue Gestalt annimmt und neue Ausschlüsse produziert. Für die dauerhaft ökonomisch Ausgeschlossenen oder die aus gentrifizierten Innenstädten verdrängten Bewohner, aber auch für die wachsende Zahl der von restriktiver Einwanderungspolitik betroffenen Migranten stellt sich die Frage nach der Teilhabe an der Stadtgesellschaft und ihren Ressourcen in sehr unmittelbarer Weise.

Die Attraktivität des Konzeptes für Protestmobilisierungen lässt sich vor allem auf seine Vieldeutigkeit zurückführen. Das „Recht auf die Stadt“ lässt sich nicht auf einen individuellen Rechtsanspruch im juristischen Sinne verkürzen, sondern ist gesellschaftliche Utopie und kollektive Forderung zugleich.[3] Es skizziert Vorstellungen einer besseren Welt und gibt diesbezüglich Anregungen für soziale Bewegungen.

Die unter diesem Label zusammengefassten Mobilisierungen können im Kontext städtischer Veränderungen sehr unterschiedliche Funktionen einnehmen: von der Verteidigung sozialstaatlicher Artefakte wie des sozialen Wohnungsbaus in New Orleans über die graduelle Verbesserung der prekären Arbeitsbedingungen wie bei der kalifornischen Kampagne der Reinigungskräfte (Justice for Janitors) bis hin zur Forderung von Künstlern, an der Stadtrendite symbolischer Aufwertungen beteiligt zu werden, wie es die Besetzung des Gängeviertels in Hamburg zeigt. Damit schließt das Recht auf Stadt an eine sehr viel ältere Tradition städtischer Revolten an.

Die Stadt ist unsere Fabrik

Städte waren seit jeher Ort von sozialen Protesten[4] und damit auch lange Zeit Maßstab und Gegenstand einer sozialen Regulation der kapitalistischen Staatlichkeit. Regionalplanung und Wohnungsbauprogramme standen in den Industrieländern im 20. Jahrhundert für die Versuche, gesellschaftliche Konflikte auf lokalstaatlicher Ebene zu lösen und zu befrieden. In den Jahren der fordistischen Organisation kapitalistischer Gesellschaften sicherten regionale Entwicklungspläne die räumlichen Grundlagen industrieller Produktion. Programme staatlichen Wohnungsbaus zielten nicht nur auf eine angemessene Versorgung der Facharbeiterfamilien, sondern in Gestalt von „sozial gemischten“ Wohnquartieren und Eigenheimsiedlungen auch auf eine Befriedung der „gefährlichen Klassen“.[5]

Die Stadt war im 20. Jahrhundert der Ort und Gegenstand staatlicher Regulation – hier wurden die Rahmenbedingungen der industriellen Produktion gelegt. Den Städten wurde deshalb eine eigenständige Funktion innerhalb der gesellschaftlichen Organisation zugeschrieben.[6] In Abgrenzung zu Kapitalverwertungsprozessen der Industrie galt die Versorgung mit – vom Markt und von einzelnen Individuen nicht zu gewährleistenden – Ressourcen als Besonderheit des Städtischen. Diese als „kollektive Konsumtion“ bezeichneten Reproduktionsfunktionen werden – so die Annahme – im Kontext eines räumlich begrenzten Systems gesellschaftlich organisiert und bereitgestellt. Sie waren und sind umkämpfter Gegenstand sozialer Bewegungen und politischer Interventionen.

Die Analyse des Städtischen verweist auf dessen fundamentalen Bedeutungswechsel für die Produktionsverhältnisse. „Die Metropole“, schreiben Michael Hardt und Toni Negri, sei „der Ort biopolitischer Produktion, weil sie der Raum des Gemeinsamen ist, der Raum von Menschen, die zusammen leben, Ressourcen teilen, kommunizieren und Waren und Ideen tauschen“. Stadt ist dabei nicht länger der reproduktive Rahmen und Container einer industriellen Produktion, sondern wird selbst zur Produktivkraft: „Was die Fabrik für die industrielle Arbeiterklasse war, ist die Metropole für die Multitude“, nämlich der Ort der Produktion, Begegnung und Organisation sowie des Widerspruchs und der Rebellion. Die Qualitäten des Städtischen werden nicht mehr als etwas den Produktionsverhältnissen Äußerliches angesehen, sondern als Quelle der Produktivität.[7]

Doch der Gebrauchswert der Städte lässt sich nicht auf konsumtive oder produktive Funktionen beschränken, denn er ist immer beides. Auch städtische Mobilisierungen, wie sie in den Recht-auf-die-Stadt-Bewegungen sichtbar werden, greifen beide Funktionen auf. Als Forderungen zur Qualität und Ausstattung kommunaler Leistungen und Infrastruktur (etwa in Kampagnen gegen die Privatisierung von Wasserbetrieben oder gegen die Schließung eines städtischen Schwimmbades) orientieren sie sich an den klassischen Funktionen der Stadt als Ort der „kollektiven Konsumtion“; Mobilisierungen gegen die Verdrängung aus bestimmten Stadtteilen und für den Erhalt von Freiräumen hingegen richten sich auch auf die Produktivität des Gemeinsamen in einer Wissensökonomie.

Soziale Bewegungen in der unternehmerischen Stadt

Der Erfolg sozialer Protestbewegungen ist dabei nicht nur von den eigenen Mobilisierungsressourcen, sondern auch von ihren Integrationspotentialen in den jeweiligen Modus der Stadtentwicklung abhängig. So sind die Post-Katrina-Proteste der Afroamerikaner in den Sozialwohnungen von New Orleans (mit der Forderung eines Rechts auf Rückkehr) nicht an ihrer Mobilisierungskraft gescheitert, sondern vor allem am stadtpolitischen Interesse einer nachhaltigen Aufwertung und gentrification der Stadt.[8] Die Kampagne der Reinigungskräfte in den USA (Justice for Janitors) war nicht nur wegen ihrer enormen Mobilisierungskraft und Ausdauer erfolgreich, sondern auch weil mit der Internationalisierung ihrer Proteste ein Imageschaden für global agierende Immobilienunternehmen drohte, die sich weltweit als zuverlässige Partner der Stadtentwicklung präsentieren wollten. Der partielle Erfolg der Hamburger Künstler, die einen Abriss der historischen Gebäude verhinderten und mittlerweile mit der Stadtregierung über langfristige Pachtverträge verhandeln, wurde auch möglich, weil das Kooptieren rebellischer Künstlerinnen und Künstler in das Stadtentwicklungsleitbild Hamburgs als „Creative City“ integriert werden konnte.

Unterschiedliche Erfolgsaussichten sozialer Bewegungen sind also immer auch im Kontext der jeweiligen Stadtpolitik zu verorten. Aktuelle Stadtentwicklungspolitik wird oft, etwa bei David Harvey und Bob Jessop, als Trend zur „unternehmerischen Stadt“ beschrieben. Sie haben drei Ebenen solcher unternehmerischer Stadtpolitik herausgearbeitet. Erste Ebene ist die Konkurrenz der Städte untereinander in Form von Standortwettbewerben um Investitionen, steuerzahlende Einwohner, Tourismusströme und Großereignisse. Zweiter Aspekt ist die Verbetriebswirtschaftlichung der Verwaltungsarbeit: Unternehmerische Haushaltsführung, Neubewertung städtischer Eigenbe-triebe und Wohnungsbestände oder Auslagerung unrentabler Bereiche (Jugendkulturarbeit, Integrationspolitik) stehen für die unternehmerische Organisation der Städte nach innen. Als drittes Merkmal wird eine unternehmerische Orientierung des Handelns von Stadtregierungen angeführt. Dabei wird, ganz im Zeitgeist neoliberaler Ideologie, die schöpferische Kreativität von Unternehmern als dynamischer Entwicklungsmotor beschrieben. Public-Private-Partnerships sind hierfür typische Beispiele. Verbunden damit ist die Hoffnung, es könne Stadtverwaltungen gelingen, ganz mühelos und ohne wesentlichen eigenen Mitteleinsatz die Kraft privatwirtschaftlicher Investitionen zu bändigen und in die gewünschte Richtung zu lenken. In der Realität bleiben die Städte oft ohne Gegenleistungen auf den – erheblichen – Kosten sitzen und müssen auf die sozialen Sickereffekte eines Aufschwungs (trickle down) hoffen. Wie dieses Sickern des Wohlstandes konkret aussehen soll, konnte bisher niemand erklären – der Attraktivität dieses Konzeptes hat es bis heute nicht geschadet. Soziale Bewegungen, die eine Umverteilung ökonomischer und städtischer Ressourcen einfordern, begeben sich also tendenziell in Opposition zu den Zielen solcher neoliberaler Stadtpolitik.

Die „Creative City“ und die Stadt der Enklaven

Eine beliebte Form unternehmerischer Stadtpolitik ist die Creative-City-Orientierung. Ausgehend von Thesen des kanadischen Stadtplaners Richard Florida versuchen viele Städte, für die sogenannte kreative Klasse attraktive Wohn-, Lebens- und Arbeitsbedingungen zu schaffen.[9] Zur kreativen Klasse zählen dabei die Leistungsträger der neuen wissensbasierten Wirtschafts- und Dienstleistungsbereiche. Angestellte in PR-Agenturen und Wissenschaftlerinnen in Forschungslabors werden ebenso zur kreativen Klasse gezählt wie Kulturschaffende. Floridas Untersuchungen beschreiben diese Kreativen als wählerische, fast divenhafte Gestalten, die nicht ihren Jobs hinterherziehen, sondern ihre Arbeit mit in die Städte nehmen, in denen es ihnen so gut gefällt, dass sie dort auch leben wollen. Dabei gelten „weiche“ Standortfaktorenals die entscheidenden Argumente im Wettbewerb um die Ansiedlung der kreativen Klasse: ein tolerantes Klima in der Stadt, individuelle Entfaltungsmöglichkeiten, ein attraktives Kultur- und Freizeitangebot. Wie in den klassischen unternehmerischen Orientierungen geht es den Städten um die Herstellung einer besonderen Anziehungskraft für die umworbene Gruppe. Seit gut einem Jahrzehnt versuchen Großstädte weltweit, sich als Creative Cities ein neues Image zu geben. Diese Stadtpolitik hat ihre Anhängerschaft nicht zuletzt in grünen und alternativen Milieus. Insbesondere Gruppen und Initiativen aus dem künstlerisch-kreativen Bereich haben in diesem Rahmen wesentlich bessere Chancen, Partner in den städtischen Eliten zu finden.

Trotz dieser Schnittmengen von (sub-)kultureller Mobilisierung und stadtpolitischer Orientierung an einem Creative-City-Leitbild haben nur wenige dieser Initiativen tatsächlich Erfolg. In Berlin-Mitte beispielsweise soll gerade das mittlerweile kommerzialisierte Flaggschiff der Alternativkultur „Tacheles“ einem Büroneubau weichen. Die Kreativindustrie wird offenbar nur so lange gefördert, wie sie einer immobilienwirtschaftlichen Verwertung nicht im Wege steht.

Der Grund für die Spannungen zwischen verschiedenen Sektoren der Stadtökonomie liegt darin, dass die Immobilienverwertung – und damit die Stadtentwicklung – zur zentralen Strategie des nach Anlagesphären suchenden Finanzkapitals geworden ist. Neben spektakulären Bauprojekten wie dem Dubai-Tower oder dem Federation-Tower in Moskau stehen hierfür vor allem Aufwertungsprozesse in bisher vernachlässigten Innenstadtvierteln und die Etablierung von Luxuswohnsegmenten in den städtischen Wohnungsmärkten. David Harvey erklärt diesen Trend als Lösungsstrategie für die Verwertungskrisen der kapitalistischen Produktion. Als Ausweg aus Verwertungskrisen seien in der Geschichte der kapitalistischen Ökonomie regelmäßig Investitionen in den sogenannten zweiten Kapitalkreislauf – also in große Bauprojekte, Immobilienmärkte und Infrastrukturen – getätigt worden, vorwiegend zur Absorption der Gewinne, um deren Reinvestition in Bereiche der Warenproduktion (erster Kapitalkreislauf) einzuschränken.[10]

In der Folge dieser immobilienwirtschaftlichen Investitionen sind Gentrifizierungsprozesse von einem Sonder- zum Regelfall der Stadtentwicklung geworden. In der unternehmerischen Stadt von heute regieren überwiegend Immobilienverwertungskoalitionen, die weite Teile der Investoren, der Bauunternehmen, der finanzierenden Banken und der politischen Klasse umfassen. Im Zusammenhang mit fortschreitenden Aufwertungsdynamiken kommt es zur Etablierung von immer neuen Exklusionsmechanismen, die nicht nur entlang sozialer Ressourcen erfolgt, sondern auch entlang verschiedener Lebensstilgruppen. Eine solche „Stadt der Enklaven“ ist durch die Konkurrenz und Abschottung „neuer sozialer Großgruppen der Wissensgesellschaft“ gekennzeichnet und lässt die traditionellen städtischen Qualitäten der Kommunikation, Ambiguität und Differenzerfahrung erodieren.[11] Kurz: Die immobilienwirtschaftlichen Strategien verschärfen nicht nur die sozialräumlichen Spaltungen, sondern gefährden auch die lokalen Voraussetzungen für die wissensbasierten und kreativwirtschaftlichen Produktionsbeziehungen.

Gentrifizierung als Mainstream – und der „Aufstand der Mittelklasse“

Diese Verwandlung der gentrification zum neuen Mainstreamprogramm hat auch die städtischen Protestkulturen verändert. Waren es in der Vergangenheit vor allem Mieterorganisationen und traditionelle Bürgerinitiativen in den betroffenen Quartieren, die sich gegen eine Verdrängung organisierten, engagieren sich heute auch viele Kulturschaffende und Bildungsbürger.

In den bereits gentrifizierten Altbauvierteln Berlins ist ein regelrechter Aufstand der Mittelklasse zu beobachten. Zur Verhinderung von Bauprojekten, der Umgestaltung von Straßenzügen und zur Durchsetzung besserer Schulen haben sich in den letzten Jahren in vielen aufgewerteten Nachbarschaften erfolgreiche Bürgerinitiativen gebildet. Anders als die nachbarschaftliche Massenmobilisierung der Vergangenheit sind es meist zahlenmäßig kleine, aber gebildete und artikulationsstarke Gruppen, die es schaffen, ihre eigenen Interessen in öffentlichen Angelegenheiten zu verwandeln. Insbesondere für die steigende Zahl der Wohnungseigentümer in den Sanierungsgebieten geht es dabei um mehr als nur die Durchsetzung der eigenen Lebensstilvorstellungen. Die Aufwertung des Wohnumfelds, der freie Blick auf eine Grünfläche und die Versorgung mit hochwertigen Bildungsangeboten prägen die Nachbarschafts- und Lagequalität und damit auch den Wert des eigenen Besitzes. Im Gegensatz zu klassischen NIMBY-Revolten (Not In My Back Yard) verfolgen die neuen Bürgerinitiativen jedoch keine Abschottung nach unten, sondern mobilisieren in der Regel gegen die nächsten Stufen der Aufwertung. Damit bieten sich neue Bündnismöglichkeiten innerhalb stadtpolitischer Mobilisierungen an; zugleich wächst aber auch die Gefahr von Spaltungen innerhalb der städtischen Protestbewegungen.

So beteiligten sich an der Berliner Kampagne gegen die Investitionsplanung MediaSpree (zur Neubebauung des Spreeufers in Friedrichshain-Kreuzberg) nicht nur Mietergruppen, ökologische Initiativen und Gruppen aus dem Spektrum der ehemals besetzten Häuser und Wagenburgen, sondern auch Clubbetreiber, Künstlerinnen und Stadtteilinitiativen aus den Ostberliner Aufwertungsvierteln.[12] Hier zeigte sich auch eine Zweischneidigkeit dieses Protests: Einerseits erzielte er eine große mediale Aufmerksamkeit für das Anliegen der Initiativen. Andererseits begünstigte die „bunte Mischung“ eine tendenziell entpolitisierende Darstellung des Protestes: Die Berichterstattung konzentrierte sich auf die drohende Schließung mehrerer Clubs am Spreeufer, die auch für den Tourismus von Bedeutung sind, während Mietsteigerungen und Verdrängung infolge des Investitionsprojektes kaum thematisiert wurden.[13]

In Hamburg haben sich über 40 verschiedene Gruppen sogar in Form eines Recht-auf-Stadt-Netzwerks institutionell zusammengeschlossen. Mit dem medial beachteten Manifest „Not in our Name – Marke Hamburg“ wandten sich Musiker, bildende Künstler und Theaterschaffende gegen die Vereinnahmung kultureller Aktivitäten für das Stadtmarketing. Auch hier war es die Präsenz von Prominenten, die ein erfolgreiches Medienecho auslöste und auf diese Weise zum schnellen und überraschenden Erfolg der Gängeviertelbesetzung beitrug, bei der eine Gruppe von Künstlern ein bereits verkauftes und zum Abriss vorgesehenes Gebäude im Zentrum Hamburgs besetzt hatte. Nach mehreren Wochen wurde das Gebäude vom holländischen Investor zurückerworben und soll nun an die Künstler verpachtet werden. Anders als bei den Berliner MediaSpree-Protesten reichten die Forderungen – so etwa die Abkehr vom unternehmerischen Stadtentwicklungsleitbild Hamburgs – von Anfang an über den unmittelbaren Protestanlass hinaus, so dass die Konzessionsentscheidung der Hamburger Landesregierung nicht als Befriedung wirkte. Wesentlich war also die Breite des am Protest beteiligten Spektrums ebenso wie der allgemeine, über konkrete Einzelprojekte hinausgehende Gestaltungsanspruch für die Zukunft des Städtischen. Die Bezugnahme auf das „Recht auf die Stadt“ ist also alles andere als Zufall.

„Recht auf die Stadt“ – mehr als nur ein Slogan

Die Forderung nach einem „Recht auf die Stadt“ erhebt einen allgemeinen Anspruch auf Nichtausschluss von städtischen Ressourcen und Dienstleistungen. Zugleich werden mit einem Recht auf die Stadt Visionen für eine andere, emanzipative und gerechtere Stadtentwicklung formuliert. Städtische Utopien sind dabei nicht als Masterplan für eine bessere Stadtentwicklung zu sehen, sondern eher als ein Anforderungskatalog an konkrete Stadtentwicklungsprojekte und Stadtpolitik. Das Recht auf die Stadt orientiert sich ökonomisch an einer Umverteilung zugunsten der benachteiligten Gruppen, kulturell an der Anerkennung und Berücksichtigung von Differenz und unterschiedlichen Zugangsweisen zum Städtischen sowie politisch an der Ermöglichung demokratischer Mitgestaltung für alle.[14] So verstanden, bietet das Konzept eine geeignete Orientierung in den städtischen Konflikten im Neoliberalismus.

Für Protestbewegungen kann das „Recht auf die Stadt“ verschiedene Funktionen haben. Es ist erstens Legitimationsressource im Sinne einer moralischen Ökonomie, die legitime Vorstellungen sozialer Normen und Verpflichtungen mit einer breiten öffentlichen Zustimmung verbindet. Insbesondere die Formulierung eines Rechts auf Nichtausschluss von den städtischen Qualitäten hat universellen Charakter.[15]

Zweitens ist es Orientierungsmaßstab für die Organisation des Gemeinwesens und eröffnet Perspektiven der lokalstaatlichen Institutionalisierung von Forderungen. So können verschiedene Instrumente, Programme und Leitbilder von Stadtregierungen mit den skizzierten Dimensionen eines „Rechts auf die Stadt“ beurteilt und überprüft werden.

Drittens ist das „Recht auf die Stadt“ Praxisorientierung für eine Ausrichtung sozialer Bewegungen auf eine politische Selbst- und Mitbestimmung sowie Praktiken der (Wieder-)Aneignung. Es lässt sich nicht auf konkrete Forderungen und Projekte beschränken, sondern steht für den Anspruch auf eine Repolitisierung im Sinne einer öffentlichen Verhandlung über Dinge, von denen alle Betroffen sind.

Und viertens schließlich ist es Organisationsansatz für neue, breite Bündnisse, da unter dem Dach eines „Recht auf die Stadt“ verschiedene, sonst marginalisierte Themen und Initiativen zu „neuen Mehrheitsbündnissen“ verknüpft werden können. Ansätze für die Institutionalisierung derartiger Netzwerke gibt es bereits in US-Städten, aber auch in Hamburg. Und deren Notwendigkeit liegt auf der Hand: Denn die neoliberale Umstrukturierung der Gesellschaft wird verstärkt in den Städten umgesetzt und dort sichtbar werden. Gesellschaftliche Utopien und Alternativen werden daher immer auch Alternativen für die Organisation des Städtischen sein. Mit einem „Recht auf die Stadt“ verbindet sich daher heute weit mehr als die einst von Lefèbvre geforderte Mobilisierung marginalisierter Interessengruppen. Denn das „Recht auf die Stadt“ beinhaltet die Chance auf ganz neue, breite Bündnisse, die Perspektiven einer Vergesellschaftung jenseits von Staat und Markt verfolgen. Voraussetzung dafür ist aber ein inhaltlicher und organisatorischer Bezug zu den Verlierern des neoliberalen Stadtumbaus. Denn ohne den klaren Bezug auf die soziale Frage droht das „Recht auf die Stadt“ als Lifestyle-Revolte von Mittelschichtsangehörigen zu versanden.


[1] Henri Lefebvre, Le Droit à la ville, Paris 1968; vgl. ders., Die Revolution der Städte, Frankfurt a. M. 1990.

[2] Margit Mayer, The „Right to the City“ in the Context of Shifting Mottos or Urban Social Movements, in: „City“, 2-3/2009, S. 362-374.

[3] Peter Marcuse, Terrorismus und das Recht auf die Stadt, in: „Blätter“, 9/2005, S. 1099-1110.

[4] Eric Hobsbawn, Revolution und Revolte. Aufsätze zum Kommunismus, Anarchismus und Umsturz im 20. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 1977.

[5] Vgl. Neil Brenner, State territorial restructuring and the production of spatial scale: urban and regional planning in the FRG, 1960-1990, in: „Political Geography“, 4/1997, S. 273-306; Bernd Belina, Raum, Überwachung, Kontrolle. Vom staatlichen Zugriff auf städtische Bevölkerung, Münster 2006.

[6]   Manuel Castells, The Urban Question. A Marxist Approach, London 1977.

[7]   Michael Hardt und Toni Negri, Multitude und Metropole, in: „Blätter“, 7/2010, S. 109-119.

[8]   Mike Davis, Who Is Killing New Orleans? In: „The Nation“, 10.4.2006.

[9]   Richard Florida, Cities and the Creative Class, New York 2005; ders., The Rise of the Creative Class. And How it’s transforming work, leisure, community and everyday life, New York 2002.

[10] David Harvey, Is This Really the End of Neoliberalism? In: „CounterPunch“, 13.3.2009.

[11] Ilse Helbrecht, „Stadt der Enklaven“ – Neue Herausforderungen der Städte in der globalen Wissensgesellschaft, in: „Neues Archiv für Niedersachsen“, 2/2009, S. 2-17, hier S. 4 ff.

[12] Albert Scharenberg und Ingo Bader, Berlin’s Waterfront Site Struggle, in: „City“, 2-3/2009, S. 325-336.

[13] Wie sich Sonderlösungen und von der Stadt angebotene Alternativstandorte für einige der Clubs auf die Protestbewegung auswirken, ist derzeit noch nicht abzusehen.

[14] Vgl. Janna Greve, Failing Cities. Die Krise der Megastädte – von Johannesburg bis Rio de Janeiro, in: „Blätter“, 4/2010, S. 99-106.

[15] Andrej Holm, Recht auf Stadt – Soziale Kämpfe in der neoliberalen Stadt, in: Rosa-Luxemburg-Stiftung Thüringen (Hg.), Die Stadt im Neoliberalismus, Erfurt 2009, S. 27-37.

(aus: »Blätter« 8/2011, Seite 89-97)



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