Das nächtliche Schwein oder die Jagd nach dem Kindermörder

UNTERDRÜCKUNG, HASS, LÜGE UND DIE GESCHÜRTE ANGST. DAS SIND DIE VIER SÄULEN, AUF DENEN SICH EINE JEDE DIKTATUR STÜTZT.
(Vincent Deeg)
Es war eine wirklich schöne und spannende Zeit, die der damals zwölfjährige Christian in dem Pionierlager, nahe des Ostseestrandes verlebte. Dort, wo er viele spannende und aufregende Abenteuer erlebte, wo er an so vielen Wanderungen, Ausflügen und Spielen teilnahm und wo er an so manch einem Abend am großen Lagerfeuer saß und mit all den anderen Kindern seines Alters aus vollen Halse Kinder und Pionierlieder oder andächtig leise heroische Kampflieder der Arbeiterklasse, so, wie das des kleinen Trompeters, das es ihm auf Grund seines traurigen Inhaltes besonders angetan hatte sang.
Ja. Dieses Pionierlager war schon etwas ganz Besonderes. Und das nicht nur der vielen Dinge wegen, die Christian dort täglich erleben konnte. Oder weil die dortige Verpflegung so viel besser und reichhaltiger war, als es die meisten der Kinder von ihrem normalen Leben her gewohnt waren. Nein. Dieses Lager war auch darum etwas Besonderes, weil es in ihm einige Kinder gab, die aus einer völlig anderen Welt zu stammen schienen.
Kinder aus einer anderen Welt?
Ja. So in etwa könnte man es beschreiben. Denn diese fremdartigen Kinder, von denen hier die Rede ist, waren tatsächlich ganz anders, als Christian und seine Freunde. Und das bezog sich nicht etwa nur auf ihr weitaus selbstsicheres und manches Mal sogar aufrührerisches Verhalten ihren Betreuern gegenüber oder auf ihre ganz klar aus dem Westen stammende Kleidung, die sie den anderen Kindern täglich präsentierten.
Nein. Es bezog sich auch darauf, dass man diese besondern Kinder in einen eigens für sie eingerichteten Bereich unterbrachte, den man von den Kindern der DDR abschottet.
*
Doch was waren das für Kinder, die offensichtlich so besonders waren, dass man sie vor den Kindern der DDR schützen musste? Oder waren es die Kinder der DDR, die man vor ihnen schützen musste?
Es waren „Jungen Pioniere“ der sozialistischen Kinderorganisation der BRD, die man in die DDR eingeladen hatte und die nun, täglich nörgelnd und ihre Abneigung gegen die DDR jedem, auch den anderen Kindern deutlich zeigend, zwei ganze Wochen in ihrem, mit einem Zaun umschlossenen und ins Hauptlager integrierte Nebenlager verbringen mussten. Eine bunte Insel in einem, trotz der vielen und farbenfrohen Wimpel und hell klingenden Pionierlieder grauen und tristen Meer, dessen Bewohner von denen, die um sie herum lebten, zwar bestaunt, jedoch nicht verstanden wurden.
Was aber haben nun diese Kinder aus der BRD mit dieser Geschichte zu tun? Eigentlich nichts. Es ist nur, weil ebenfalls geschehen, ein Fingerzeig darauf, welch Geistes Kind dieses Regime der DDR, diese Diktatur des Proletariats, wie man sich selbst nannte, tatsächlich war. Ein Fingerzeig auf die Angst, die man sogar vor den Kindern hatte.
Angst vor denen, deren bereits klarer und längst nicht so sehr von der kommunistischen Ideologie vergifteter Geist das trügerische Bild der DDR erkannte und benannte. Aber auch Angst vor denen, deren Köpfe zwar bereits stark vernebelt, deren aber noch intakter Verstand dazu in der Lage war, Fragen zu stellen und Zweifel zu hegen.
*
Und Christian stellte Fragen. Und das nicht zu knapp. Wollte er doch ebenso, wie die anderen Kinder wissen, warum man ihm nicht erlaubte, sich diesem abgezäunten Lager, sich diesen besonderen Kindern zu nähern, ja gar mit ihnen zu sprechen. Fragen, die, wer hätte es anders erwartet, immer wieder nur mit fadenscheinigen Antworten oder mit der Androhung von Strafen vom Tisch gefegt wurden.
Doch es waren weniger die Lügen oder die angedrohten Strafen, die Christians und die anderen Kinder letztendlich zum Schweigen brachten. Sondern viel mehr das schreckliche Ereignis, das sich eines Nachts, während alle Kinder bereits fest in ihren Bungalows und Zelten schliefen ereignete.
*
Es war eine Nacht wie jede andere. Eine Nacht, in der sich einige der in der Regel noch jungen Betreuer bei einem Bier oder einem Glas Wein zusammen setzen, um über das Leben, ihren Beruf, ihr Studium oder über den vergangenen oder zu erwartenden Tag zu sprechen. Eine Nach, in der aus so manchem Bungalow oder Zelt ein leise Schnarchen oder das leise Weinen eines Kindes drang, das Heimweh hatte und getröstet werden musste. Eine Nacht, wie jede andere auch.
Doch nur, bis laute Schreie, brüllende Kommandos, dröhnende Motoren und das Klappern von Waffen diese Stille zerrissen.
*
Ein Erwachen, das für die Kinder dieses Lagers nicht schlimmer hätte sein könnte. Kinder, die eben noch von ihrem letzten Abenteuer oder von dem Wiedersehen mit ihren Familien geträumt hatte und die nun, völlig verängstigt und teilweise weinend in den Eingängen ihrer Zelte und Bungalows standen und mit ansahen, wie unzählige, mit grell leuchtenden Lampen und klappernden Maschinenpistolen bewaffnete Polizisten und Soldaten durch ihr gestern noch sicheres Lager hin und her rannten und nach einem Schwein suchten, wie einer der Männer es heraus schrie, das sich irgendwo in diesem Lager versteckt hielt und das man unbedingt finden und verhaften müsse.
Doch was für ein Schwein sollte das sein, das so viel Aufregung verursachen konnte? Für das man, um es zu fangen, so viele bewaffnete Polizisten und Soldaten brauchte. Ein Schwein, das man gar verhaften wollte.
Fragen, auf die zumindest die Kinder, deren Unterkünfte in der direkten Nähe des großen Fahnenappell Platzes aufgestellt waren, eine sehr deutliche und brutale Antwort erhalten sollten. Dort, wo man das inzwischen aufgespürte Schwein, von den Scheinwerfern zweier Armeefahrzeuge beleuchtet, hin trieb und ohne auf die vielen kleinen und vor lauter Angst zitternden Zuschauer Rücksicht zunehmen, mit ein paar Tritten und ein paar Schlägen mit dem Gewehrkolben zu Fall brachte.
*
Ein Erlebnis, das sich tief in Christians Gedächtnis einbrannte. Von dem er und das noch lange Zeit danach, in so mancher Nacht träumte. Bevor er schweißgebadet erwachte. Ein Bild, das er nicht vergessen konnte. Das Bild, von dem jungen Mann mit dem Rucksack auf dem Rücken. Der junge und vor Schmerzen und panischer Angst schreiende Mann, den die vielen Polizisten und Soldaten, die ihn jagten und schlugen, ein Schwein nannten und von dem die Betreuer, die die Kinder damals beruhigen sollten, später behaupteten, dass er ein gemeiner Kindermörder sei, den man zum Glück noch fangen konnte, bevor er etwas Schlimmes hatte tun können.
Doch war dieser junge Mann tatsächlich ein Kindermörder? Oder hatte man sich dieser Lüge nur bedient, um von der Wirklichkeit abzulenken? Eine Wirklichkeit, in der es nicht mehr bunt und schön war und in der es Menschen gab, die auf allen nur erdenklichen Wegen versuchten, über die Grenze, dem Antifaschistischen Schutzwall, wie man diese unmenschliche Grenzanlage, diese Todesfalle in den Reihen der DDR Führung nur all zu gern nannte, in die Freiheit zu entfliehen.
*
Auch auf diese Fragen sollte Christian eines Ta eine klare Antwort erhalten. Nämlich, als er selbst zu einem dieser Schweine wurde. Als man ihn auf seinem Weg zur grünen Grenze aufspürte, jagte und bevor man ihn zur nächsten Stasi U-Haft verschleppte, auf brutale Art und Weise erst nieder und dann zusammen schlug.
Diese Geschichte beruht auf einer wahren Begebenheit. Sie wurde mir von Christian selbst erzählt.

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