Das Mädchen von gegenüber

Im Haus gegenüber wohnt ein Mädchen. Ich kenne es nicht gut, aber gut genug, um zu wissen, dass sie schon viel zu viel erlebt hat mit ihren gerade mal fünf Jahren.

Sie und ihre Familie kommen aus Syrien. Ich weiß nichts darüber, was sie in ihrer Heimat erlebt haben und auf welchem Weg sie vor eineinhalb Jahren nach Deutschland kamen, um hier Zuflucht zu finden. Aber sie haben alles hinter sich gelassen, um in Frieden und Sicherheit mit ihrer Familie leben zu können.

Ich treffe sie hin und wieder auf der Straße und winke ihnen zu. Manchmal sehe ich, wie sie zu Fuß vom Einkaufen kommen, und die Tüten den ganzen Weg schleppen müssen. Ich sehe wie die Mutter ihre Tochter mit dem Bus in den Kindergarten bringt und zu Fuß die etwa sieben Kilometer nach Hause läuft, weil der nächste Bus erst eine Stunde später kommen würde. Ich sehe wie der Vater mit dem Fahrrad jeden Tag ins Nachbardorf fährt, um dort Deutsch zu lernen und seiner Arbeit nachzugehen. Ich höre das unbeschwerte Lachen ihrer beiden großen Brüder, wenn sie draußen auf der Straße spielen. Ich sehe nette Menschen, die hier einen neuen Platz gefunden haben.

Neulich traf ich sie beim Einkaufen. Es war ein sehr heißer Tag, an dem jeder Schritt zu viel ist. Ich bot ihnen spontan an, sie mit nach Hause zu nehmen, wenn sie mit dem Einkaufen fertig wären. Die Mutter spricht kaum Deutsch, so übersetzte ihr Sohn für sie. Sie stimmte zu und ich sagte ihr, sie solle in Ruhe alles erledigen. Ich wartete ein paar Minuten draußen am Auto und dann kamen sie und packten ihre Einkäufe in den Kofferraum. Wenige Minuten später waren wir zu Hause und die Mutter bedankte sich mehrfach bei mir.

Das Mädchen übrigens liebt Autofahren. Als sie mit mir fuhr, öffnete sie das Fenster ein Stück und hielt die Hand in den Wind, fühlte die Luft, die aus der Lüftung kam, fragte mich, ob ich die Musik ein bisschen lauter machen könnte. Wenn sie groß ist, möchte sie ein eigenes Auto kaufen – ein weißes – und ihr Papa soll neben ihr auf dem Beifahrersitz sitzen. Sie erzählte mir auch, dass ihre Mama nicht gut Deutsch spricht, weil sie nicht zur „Schule“ gehen kann. „Denn sie möchte nicht, dass ich den ganzen Tag im Kindergarten bleiben muss und holt mich lieber mittags wieder ab und deswegen kann sie nicht hingehen.“ Und das kann ich verdammt nochmal sehr gut verstehen.

Wie oft gibt es da draußen doch Leute, die sich darüber aufregen, dass manche Flüchtlinge kein Deutsch lernen würden und dass sie sich doch gefälligst anstrengen sollen, wenn sie schon hier leben wollen. Aber vielleicht gibt es dafür ja auch Gründe. Gute Gründe.

Ich für meinen Teil finde es nur ein bisschen schade, dass ich mich nicht richtig mit ihr unterhalten kann. Das würde ich nämlich gern.

Neulich bat sie meinen Sohn und mich in die Wohnung und natürlich nahmen wir die Einladung an. Seit diesem Tag bin ich sehr nachdenklich.

Die Wohnung war sehr sauber und es ist alles vorhanden, was nötig ist. Aber eben auch nur das. Das Nötigste. Eine Küche, ein Schlafzimmer, ein Bad. Ein Wohnzimmer mit einer alten Couch, einem Esstisch, an dem die ganze Familie Platz hat, einem uralten Röhren-Fernseher. Ein kleines Kinderzimmer für alle drei Kinder, von denen zwei bald Jugendliche sein werden. Und überall nackte Böden ohne jeglichen noch so kleinen Belag, keine gemütlichen Kissen, keine Pflanzen, keine Wärme, keine Behaglichkeit. Solche Kleinigkeiten, die für uns völlig normal sind und einfach dazu gehören.

Und wir haben nicht nur das, sondern allen möglichen anderen Luxus, sei es ein Geschirrspüler oder ein Wäschetrockner, ein riesiger Fernseher, Computer, Laptop – was weiß ich. Wir nutzen diese Dinge Tag für Tag und nehmen es als selbstverständlich hin. Wir machen uns keine Gedanken darüber, wie es ohne diese Dinge wäre, weil wir es noch nie mussten.

Im Kinderzimmer zeigte das Mädchen uns stolz ihre Kiste mit Lego. Eine kleine Kiste mit ein paar Steinen, aus denen man nicht mal ein vernünftiges Haus bauen kann. Mein Sohn fragte mehrmals: „Wo sind denn die ganzen Spielsachen?“ Und ich war peinlich berührt und betroffen. Denn bei uns quillen die Spielzeugkisten über. Für unsere Kinder ist das normal, weil sie es nicht anders kennen. Ich fühle mich dazu gedrängt, ihr von unserem Überfluss etwas abzugeben und meinen Kindern zu vermitteln, dass es eben auch Menschen gibt, denen es nicht so gut geht wie uns.

Wir haben so viel, und sie haben fast nichts. Und doch wirken sie so dankbar und zufrieden.

Wann waren wir das letzte Mal dankbar? Wann haben wir uns das letzte Mal bewusst gemacht, dass im Leben eigentlich nichts selbstverständlich ist und sich von einem auf den anderen Tag alles ändern könnte? Ich bete darum, dass wir niemals in eine solche Situation kommen mögen. Und ich bin mit Dankbarkeit erfüllt für all die Dinge, die man nicht mit Geld bezahlen kann: Liebe, Gesundheit, Glück, Geborgenheit! Denn das ist es, was wirklich wichtig ist.

Während ich diese Zeilen schreibe, sitzte ich neben dem Bett meines kranken, schlafenden Sohnes, höre zu, wie er leise atmet – dankbar dafür, dass meine Kinder geborgen und behütet aufwachsen können und dass wir alles haben, was wir brauchen – uns.



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