Das Leben ist ein Zirkuswagen – wusstest du das?

Ich rieb ungläubig meine Augen, als ich dort am Waldrand den Zirkuswagen sah. Welches Jahrhundert haben wir denn? Ist es das Jahr 1214 oder 1328 anno Domini? Knarrend, von einem Ochsengespann gezogen, fuhr der Karren an dem trüben Herbsttag auf dem holperigen Feldweg dahin. Er schaukelt ganz sanft. Er hat Zeit. Ihm sind die emsigen Ameisen egal, die hektischen Bienen. Alles.

Magnetisch angezogen pirschte ich mich hin. Vorne saß ER auf dem hölzernen Kutscherbock, in ein Flickenkleid aus Jutesack- und Fellresten gehüllt, und ER blies eine krumme hölzerne Flöte. Was der aus dem kleinen handgeschnitzten Instrument für schöne Klänge rauskriegt! Ich ging noch näher. Auf die Seitenwand des Zirkuswagens war ein Harlekin aufgemalt sowie ein Braunbär mit einer Kette durch die Nase. Etwas abgeblättert schon. Aber voller Kraft.

Ein kleines Fenster in der Seitenwand weckte meine Neugier noch mehr. Aber es war mit einem verblassten Vorhang von innen zugehängt. Auf das halbrunde Dach waren mit ausgefransten Juteschnüren allerlei leere Körbe angezurrt. Hinten war ein großer Vogelkäfig aus Draht sichtbar und die zierlichen bunten Vögeln schienen dem Kutscher zu antworten oder eher ihren Freunden im Wald?

Bei jeder Bewegung klingelten unter dem Karren Glöckchen, und es rasselte etwas in seinem Inneren und dann klapperten irgendwo Blechtöpfe. Es roch nach Pilzen und Muskatnuss, nach Räucherstäbchen oder war es Sandelholz? Ich ging neben dem Wagen her, wollte ihn berühren – ob sich das Holz wohl eher warm oder kalt anfühlte? Der Wagen hielt mich im Bann, wie eine Schlange, tänzelnd und züngelnd und ich traute mich nicht.

Der Karren bog untereinst bei einer Abzweigung in den Wald hinein und löste sich zwischen den Kiefern und Haselbüschen in nichts auf. Habe ich geträumt?

Das Leben ist wie der Hauch eines Büffels im Winter. Es ist wie der Sprung des Lachses im Frühling. Ja, wie der Zirkuswagen am Waldrand. Das Leben ist wie der Abendnebel im Herbst.

Das Verschwinden des Zirkuswagens hatte in mir eine Sehnsucht ausgelöst eine Art Wehmut, aber auch Zärtlichkeit und ein leiser Schmerz. Und ich fragte mich – warum habe ich mich nicht neben den Kutscher gesetzt? Warum habe ich nicht auch eine Melodie auf einer krummen Pfeife gespielt? Warum habe ich ihn nicht einfach gebeten anzuhalten und mit mir ein Wurstbrot zu essen? Warum habe ich ihn nicht auf einen Marktplatz begleitet um seiner Aufführung zuzuschauen?

Jetzt ist der Atem des Bisons verflogen, der Lachs ist wieder im Wasser verschwunden, der Zirkuswagen ist in den Wald entwichen, der Herbstnebel hat sich in die feuchte Nacht aufgelöst.

Das Leben ist wie ein Zirkuswagen, voller Geheimnisse und vielleicht mit einigen Tricks, vielleicht manchmal auch etwas neckisch, vielleicht betrügt es mich ein wenig, und man genießt den Betrug, nein nur eine kleine Illusion, ein kleines Spiegelkabinett. Und das Leben bringt bunte Vögel mit sich, manche im Käfig und manche in den Bäumen hoch oben.

Irgendeiner hat den Bären an die Wand gemalt. Und doch ist da kein Bär. Es ist nur ein Bild, nur ein Gebrumm aus dem Bart des Gauklers und ich lass mich ja so gern vom Leben umschaukeln. Bis das Käuzchen ruft und auch du die Wegabzweigung nehmen musst, in den Wald hinein.

Der Zirkuswagen ist voller Geheimnisse. Und er gibt seine Geheimnisse nicht einfach so preis. Dazu muss man schon anklopfen. Betteln. Fordern. Oder vielleicht nur nett fragen. Aber wenn man nichts von dem tut, dann passiert auch nichts und dann verschwindet er mit seinen Geheimnissen…

 


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