Das Idyll vom engen Zusammenrücken

Hach, ist das kuschelig. Seit letzter Woche wissen wir dank der »Bertelsmann Stiftung«, dass Deutschland in den letzten Jahren enger zusammengerückt ist. Freiwillig? Oder hat man es nur zusammengefaltet und zusammengeschoben?

Das Idyll vom engen Zusammenrücken

Eng zusammengerückte Arbeiter-
familie um 1900.

Die Studie untersuchte unter anderem die sozialen Beziehungen zu anderen Menschen und die Verbundenheit mit dem Gemeinwesen. Und siehe da: »Die Deutschen halten heute besser zusammen als noch zu Beginn der 90er Jahre.« Der Gemeinsinn sei während der vergangenen Jahrzehnte gewachsen. Schon erstaunlich für ein Gemeinwesen, dass an allen Ecken und Enden spart und auf kommunaler Ebene vollkommen unterfinanziert ist. Woher kommt denn dieser Zusammenhalt plötzlich, wenn man nicht mal mehr alle seine Freibäder und Museen zusammenhalten kann? Stärkt der Sozialabbau etwa den Gemeinsinn? Ist die »Konsolidierung der Haushalte« der kohärente Stoff der Gesellschaft?

Ist der Mittzwanziger, der noch immer bei Papa und Mama wohnen muss, weil er keine Stelle findet, so ein lobenswertes Zeichen für den »neuen Zusammenhalt«? Und der erwachsene Sohn, der Hartz IV bezieht und zu seiner Mutter geht, um bei ihr Geld für einen neuen Kühlschrank zu leihen? Zusammenhalt? Ausdruck tiefer sozialer Beziehung? Sind »Die Tafeln« in der Kalkulation beinhaltet? Die Bahnhofsmission? Und wie hervorragend könnten die Werte einer solchen Studie erst ausfallen, wenn »Die Tafeln« aufgrund Überlastung nicht Hilfebedürftige abwimmeln müssten.
So gesehen müssen die Arbeiterfamilien um 1900 wahrlich zufrieden gewesen sein. Sie klebten auf engsten Raum aufeinander und waren alle voneinander abhängig. Arbeiter mussten zusammenhalten, damit sie ihre Familien zusammenhalten konnten. »Kind wir müssen jetzt zusammenhalten, der Papa ist krank und kann nicht zur Arbeit. Geh bitte auf die Hauptstraße und putz den feinen Herren die Lackschuhe.« Na, »Bertelsmann Stiftung«, war das nicht eine tolle Zeit des Zusammenhalts? Man muss aber zugeben, dass dieser Grad nur bis zu einem bestimmten Punkt des Elends geht. Wird es ganz arg, dann driftet alles auseinander. Steinbeck hat das gut in seinem Buch »Früchte des Zorns« beschrieben. Am Ende blieb von der Familie Joad nur ein harter Kern übrig. Alle anderen starben oder verschwanden einfach.
Was ich sagen will ist: Ist dieser postulierte Zusammenhalt aus Wohlgefühl entstanden oder weil der zusammengefaltete Sozialstaat ihn bewirkte? Ist er überhaupt entstanden? Man kann solche Gegenstände ja kaum richtig messen, sie beruhen auf subjektiven Einschätzungen und können daher genauso gut nur eingebildet sein.
Ich kann ja schön bei einer Befragung angeben, dass ich bei »Die Tafeln« mitwirke und daher schlussfolgern, dass das Zwischenmenschliche durchaus vorhanden ist. Ob nun als Austeiler oder Einsammler ist egal. Wenn es mehr Arme gibt, dann gibt es auch mehr zivilgesellschaftliche und von NGOs gesteuerte Maßnahmen, die diesen Armen helfen sollen. Mit der wachsenden Armut wächst auch die Anzahl jener Akte, die man dann unter den Begriff »Zusammenhalt« zusammenhalten könnte. Und wo der Sozialstaat Not lindert, werden auch eine weitaus geringere Summe solcher Akte benötigt.
Was will die »Bertelsmann Stiftung« also sagen? Will sie indirekt zugeben, dass der Zusammenhalt außerhalb staatlicher Institutionen dringender denn je nötig ist? Oder will sie ein Loblied auf die wirtschaftliche Situation singen, für die sie selbst mitverantwortlich ist? Sie unterstellt ja den Menschen aus dem Osten des Landes, weniger Zusammenhalt zu kennen, weil die im Sozialismus gelernt hätten, misstrauisch ihre Ellenbogen zu benutzen. Soll uns das sagen, dass der Kapitalismus also doch nicht so übel ist, weil er die besten Seiten des Menschen hervorkehrt? Ganz schön zynisch: Die freie Marktwirtschaft erzeugt zwar Armut, aber zum Ausgleich auch Hilfsbereitschaft. Und deshalb: Weiter so!
Jedenfalls versteht hier ein neoliberaler Stichwortgeber mal wieder nicht, Symptome zu erkennen. Wenn sie vom allgemeinen Wohlstand berichten und dann anführen, dass das Volksvermögen zugenommen hat, dann nehmen sie diese Ansicht als Hinweis auf die Richtigkeit ihrer These, dass der freie Markt Wohlstand erzeugt. Dabei ist es ein Symptom dafür, dass das Sozialsystem schlecht ist. Je weniger der Staat umlagefinanziert, desto mehr müssen die Menschen selbst sparen. Die Rechnung zahlen sie am Ende natürlich trotzdem. Und die wird meist noch teurer. Dieser »neue Zusammenhalt«, den die »Bertelsmann Stiftung« in alle Zeitungen und Nachrichten diktierte, ist vom gleichen Kaliber. Er zeigt nur, dass Menschen in Nöten jetzt mehr von Mitmenschen abhängig sind, weil ihnen Bund, Länder oder Kommunen immer weniger helfen.
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