Verehrung meinem Lehrer!
Der große Meister aus Oddiyana sagte einst:
„Erforscht nicht die Ursachen der Dinge,
erforscht lieber den Grund des Geistes!
Sobald die Wurzel des Geistes gefunden wurde,
werdet ihr eine Sache wissen, wodurch alles befreit ist.
Aber wenn ihr den Grund des Geistes erfolglos sucht,
werdet ihr alles wissen, aber nichts verstanden haben.“
Wenn ihr beginn auf euren Geist zu meditieren, setzt euch gerade hin, erlaubt eurem Atem auf natürliche Weise zu kommen und zu gehen. Blickt in den Raum vor euch, wobei die Augen weder geschlossen noch weit geöffnet sind. Denkt für euch selbst, das ihr zum Wohle aller Wesen, die eure Mütter gewesen sind, ihr Gewahrsein, das Gesicht Samantabhadras, erblicken werdet. Betet hingebungsvoll zu eurem Wurzellehrer, der untrennbar von Padmasambhava, dem Guru aus Oddiyana ist und dann vereint euren Geist mit seinem. Ruht in einem gleichmütigen, meditativen Zustand.
Sobald ihr euch darin niedergelassen habt, werdet ihr wie auch immer nicht in diesem leeren, klaren Zustand des Gewahrseins verbleiben. Euer Geist wird sich zu bewegen beginnen und aufgeregt werden. Er wird herumzappeln und hierhin und dahin, wie ein Affe überall hin laufen. Was ihr an diesem Punkt erfährt, ist nicht die Natur des Geistes, sondern nur Gedanken. Wenn ihr an ihnen festhaltet und ihnen folgt, werdet ihr entdecken, dass ihr euch an alle möglichen Dinge erinnert, über alle Bedürfnisse nachdenkt, alle möglichen Aktivitäten plant. Es ist genau diese Art geistiger Aktivität, die euch in der Vergangenheit in den dunklen Ozean von Samsara geschleudert hat und es besteht kein Zweifel, dass dies in Zukunft auch so sein wird. Es wäre also viel besser, wenn ihr diese immer wieder entstehende, schwarze Täuschung eurer Gedanken durchtrennen könntet.
Was geschieht, wenn ihr fähig seid, aus den Ketten eurer Gedanken auszubrechen? Wie ist Gewahrsein? Es ist leer, durchsichtig, atemberaubend, strahlend, frei, freudvoll! Es ist nicht etwas, das durch seine eigenen Merkmale gebunden oder begrenzt ist. Es gibt nichts in der Gesamtheit von Samsara und Nirvana, das es nicht umfasst. Seit anfangsloser Zeit ist es in uns, angeboren. Wir waren niemals ohne es, dennoch ist es gänzlich außerhalb von Handlung, Anstrengung und Vorstellung.
Aber wie ist es, werdet ihr fragen, Gewahrsein, das Gesicht von Rigpa, zu erkennen? Obwohl ihr es erlebt, könnt ihr es nicht beschreiben – es ist, als ob ein stummer Mensch versucht, seine Träume zu beschreiben! Es ist unmöglich, zwischen euch selbst beim Verweilen in Gewahrsein und dem Gewahrsein, dass ihr erfährt, zu unterscheiden. Wenn ihr ganz natürlich, nackt im grenzenlosen Zustand des Gewahrseins verweilt, dann werden all diese flüchtigen, belästigenden Gedanken, die nicht einmal für einen Moment Ruhe geben – all diese Erinnerungen, all diese Pläne, die euch so viele Probleme bereiten – ihre Macht verlieren. Sie lösen sich im weiten, wolkenlosen Raum des Gewahrseins auf. Sie zersplittern, stürzen ein, verschwinden. All ihre Kraft geht im Gewahrsein verloren.
Ihr habt dieses Gewahrsein schon in euch. Es ist die klare, nackte Weisheit des Dharmakaya. Aber wer kann euch darin einführen? Worauf solltet ihr euch stützen? Wessen sollt ihr euch gewiss sein? Zunächst ist es euer Lehrer, der euch den Zustand eures Gewahrseins zeigt. Und wenn ihr es dann selbst erkennt, es ist, dass ihr in eure eigene Natur eingeführt worden seid. All die Erscheinungen, sowohl von Samsara und Nirvana, sind nur der Ausdruck eures eigenen Gewahrseins; stützt euch allein auf Gewahrsein. So wie die Wellen sich aus dem Ozean erheben und wieder in ihn zurückfallen, sinken alle Gedanken, die erscheinen, in Gewahrsein zurück. Seid euch ihrer Auflösung gewiss und als Ergebnis ihr euch in einem Zustand befinden, der gänzlich leer sowohl von einem Meditierenden und auf etwas meditiertem ist – vollständig jenseitig des meditierenden Geistes.
„Oh, in diesem Fall,“ denkt ihr vielleicht, „gibt es keine Notwendigkeit für Meditation.“ Nun, ich kann euch versichern, dass sehr wohl eine Notwendigkeit besteht! Die bloße Erkenntnis von Gewahrsein wird euch nicht befreien. Durch all eure Leben seit anfangsloser Zeit habt ihr euch in falschem Glauben und verblendete Gewohnheiten eingewickelt. Seit da an bis jetzt habt ihr jeden Moment als elende, erbarmungswürdige Sklaven eurer Gedanken verbracht! Und wenn ihr sterben werdet, ist es nicht gewiss, wohin ihr gehen werdet. Ihr werdet eurem Karma folgen und ihr werdet leiden müssen. Das ist der Grund, warum ihr meditieren müsst, dauerhaft den Zustand des Gewahrseins, in den ihr eingeführt wurdet, zu bewahren. Der allwissende Longchenpa sagte: „Ihr mögt eure eigene Natur erkannt haben, aber wenn ihr nicht meditiert und davon Gebrauch macht, werdet ihr wie ein Baby auf dem Schlachtfeld sein. Ihr werdet vom Feind, den feindlichen Armeen eurer eigenen Gedanken, davongetragen werden!“ Allgemein gesagt bedeutet Meditation „vertraut werden“ mit dem Verweilen im Zustand der uranfänglichen, ungekünstelten Natur, durch spontane, natürlich andauernde Achtsamkeit. Es bedeutet, den Gewahrseinszustand so zu belassen, frei von aller Ablenkung und allem Haften.
Wie schaffen wir es nun, in der Natur des Geistes zu verweilen? Wenn Gedanken während der Meditation auftauchen, lasst sie einfach kommen; es ist nicht notwendig, sie als eure Feinde zu betrachten. Wenn sie entstehen, entspannt euch in ihr Entstehen. Wenn sie andererseits nicht entstehen, seid nicht verwundert darüber, ob sie kommen werden oder nicht. Ruht einfach in ihrer Abwesenheit. Wenn große, klar umrissene Gedanken während eurer Meditation plötzlich auftauchen, ist es einfach, sie zu erkennen. Aber wenn feine, subtile Bewegungen entstehen, ist es schwierig zu erkennen, dass sie etwas später dann da sind. Dies nennen wir „namtok wogyu“, die Unterströmung des geistigen Wanderns. Dies ist der Dieb eurer Meditation. Daher ist es wichtig für euch, sehr wachsam zu sein. Wenn ihr beständig achtsam sein könnt, sowohl in der Meditation als auch nachher, wenn ihr esst, schläft, geht oder sitzt, das ist es – dann macht ihr es richtig!
Der große Meister Guru Rinpoche sagte: „Hunderte Dinge können einem erklärt werden, tausende gelehrt, aber eine einzige Sache sollte man ergreifen. Kenne eine Sache und alles ist befreit – verweile in deiner angeborenen Natur, deinem Gewahrsein!“
Es wird ebenso gesagt, dass, wenn man nicht meditiert, wird man keine Gewissheit erlangen; wenn man meditiert, wird man sie erlangen. Aber welche Art von Gewissheit erlangt man? Wenn man mit starker, freudiger Bemühung meditiert, werden Zeichen auftreten, die anzeigen, dass ihr in eurer Natur verweilt. Das furchtsame, angespannte Haften, das ihr bei den dualistisch erlebten Phänomenen habt, wird nach und nach schwächer werden und eure Besessenheit von Glück und Leiden, Hoffnungen und Befürchtungen usw. wird langsam schwächer. Eure Hingabe an euren Lehrer und euer ernsthaftes Vertrauen in seine Anweisungen wird wachsen. Nach einiger Zeit wird euer angespanntes, dualistisches Verhalten sich auflösen und ihr werdet zu dem Punkt gelangen, an dem Gold und Kieselsteine, Nahrung und Unrat, Götter und Dämonen, Tugend und Untugend für euch gleich sein – ihr werdet in Verlegenheit kommen, zwischen Hölle und Paradies zu wählen! Aber bis ihr diesen Punkt gelangt (während ihr noch immer in Erfahrungen dualistischer Wahrnehmung gefangen seid) sind Tugend und Untugend, Buddhafelder und Höllen, Freude und Schmerz, Handlungen und ihre Ergebnisse alles Wirklichkeit für euch. Wie der große Guru sagte: „Meine Sicht ist größer als der Himmel, aber meine Aufmerksamkeit auf meine Handlungen und ihre Ergebnisse ist feiner als Mehl.“
Geht also nicht herum und verkündet große Dzogchen-Meditierende zu sein, wenn ihr tatsächlich nichts seid sondern nur ein furzendes Geräusch, das nach Alkohol stinkt und wild vor Begierde ist!
Es ist wesentlich für euch, eine stabile Grundlage aus reiner Hingabe und reinen Gelübden zu haben, zusammen mit starker, freudiger Anstrengung, die das ausgleicht, weder zu stark angespannt noch zu lasch. Wenn ihr meditieren könnt, die Aktivitäten und Angelegenheiten dieses Lebens völlig beiseite schieben könnt, dann ist es gewiss, dass ihr außergewöhnliche Eigenschaften des tiefgründigen Pfades erreichen werdet. Wieso also auf zukünftige Leben warten? Ihr könnt die uranfängliche Zitatelle schon jetzt einnehmen, in der Gegenwart.
Dieser Rat ist das wirkliche Blut meines Herzens. Bewahrt es und verliert es niemals!
Mögen wir Vertrauen in die Sicht erlangen,
in der Samsara und Nirvana dasselbe sind.
Mögen wir vollendetes Geschick in der Meditation haben,
einem natürlichen, unverfälschten, ungekünstelten Strom.
Mögen wir unsere Handlung zur Vollkommenheit bringen,
einer natürlichen, absichtsfreien Spontanität.
Mögen wir den Dharmakaya finden,
jenseits allem Erlangen und Zurückweisen.
Kolophon:
Diese Belehrung zur Großen Vollkommenheit sowie das Dzogchen-Wunschgebet wurden von S.H. Dudjom Rinpoche in Paris gegeben. Zur leichteren Lesbarkeit wurden diese beiden Texte vom Ngak’chang Rangdrol Dorje ins Deutsche übersetzt. Mögen sie für alle Wesen eine Quelle der Ermutigung und Inspiration sein. Sarva Mangalam!
Mehr Informationen zur Tradition der weißen Sangha – den Ngakpas & Ngakmos – finden sich auf www.lhundrub.at.