Das große Versagen der Moderne

Am Beginn einer epochalen Zeitenwende stehend, realisiert eine zusehends aufgeklärte Bevölkerung die ursächlichen Gründe für den Niedergang unserer Kultur

Banksters / Get Out Of Jail / DonkeyHotey / flickr / CC BY 2.0

Banksters / Get Out Of Jail / DonkeyHotey / flickr / CC BY 2.0

Kommentar – Politiker unserer Zeit sehen sich einer Welt gegenüber, die immer komplexere, diversifiziertere und differenziertere Züge annimmt. Zugleich erleben wir eine Zunahme der Beschleunigung, mit der die Dinge sich entwickeln. Die Schlagzahl, mit der die Ereignisse auf uns einprasseln, steigt beständig. Unsere Politik vermag mit dieser Beschleunigung nicht Schritt zu halten und es offenbart sich zusehends, dass jene politischen Konzepte, mit denen während der 70er und 80er Jahre noch mühelos durchregiert werden konnte, also zentralistisch, arbeitsteilig, hierarchisch und hochgradig spezialisiert, mittlerweile nicht mehr ausreichen, um den zunehmenden Komplexitätsanforderungen unserer heutigen Welt gerecht zu werden. Diesen Veränderungen kann auch die Wirtschaft sich nicht entziehen. Bereits seit einigen Jahrzehnten war absehbar, dass bei zunehmender Massenproduktion, sinkenden Löhnen und ständigem Zwang zum Wachstum auch die Industrie an die Grenzen des Machbaren stoßen würde. Dieser Punkt scheint nun erreicht.

Andererseits waren in den Jahren zuvor durch eben jene Massenproduktion gigantische Umsätze generiert worden, die nun als abstraktes Finanzkapital durch die Anlegermärkte marodieren und so dem realen Markt entzogen wurden. Die Macht über den Markt hat somit das Finanzkapital. Dieses regiert den Markt jedoch nicht länger entsprechend bisheriger Marktkriterien wie Angebot und Nachfrage oder optimalem Ressourcenmanagement, sondern vielmehr gemäß den Gesetzen der Finanzspekulation. Bei aufgekauften Betrieben interessieren weder die Produktlinie, noch die Gewinnerwartung, sondern ausschließlich die Frage, wie sich aus diesem Betrieb maximaler Profit herausschlagen lässt und sei es auch nur für ein halbes Jahr. Danach kann der Rest davon zusammenkrachen und ein neuer Betrieb gerät ins Fadenkreuz der Spekulanten. Dies betrifft natürlich ganz besonders die Menschen in den Betrieben, die sich dieser unheiligen, neuen Welt hilflos ausgeliefert sehen. Es ist eine Politik der verbannten Erde, derer sich unsere Wirtschaft bemächtigt hat und sie führt dazu, dass einige Wenige unsere Zukunft bereits heute verbrauchen.

Wie konnte es dazu kommen?

Die Politik hatte mit dem Beginn der 90er Jahre der Finanzwirtschaft die Möglichkeit eröffnet, mit Hilfe eines raubtierhaften Spekulationskapitalismus’ sagenhafte Gewinne zu erwirtschaften. Dabei sind vor allem drei Schritte ausschlaggebend für die heutige Situation. Da war zum einen die Euroeinführung, durch welche die unterschiedlich starken Europäischen Finanzmärkte komplett egalisiert wurden. Währungsgefälle, Wechselkurse und unterschiedliche BIPs der verschiedenen Eurostaaten wurden hierbei bewusst ignoriert. Ein weiterer wichtiger Schritt war die fast völlige Deregulierung des Bankensektors. In den Jahren 1998 bis 2004 war unter der Regierung von SPD und den Grünen die Befreiung des Finanzkapitals von fast allen Regeln und Vorschriften erfolgt. Dabei wurden von Rot- Grün vorsätzlich eben jene Regulierungen entfernt, deren Fehlen während der Weimarer Republik bereits zur Entstehung des Dritten Reiches und dem darauffolgenden Zweiten Weltkrieg geführt hatten. Erst nach 1945 waren diese Regeln dann eingeführt worden, um eine Wiederholung der schrecklichen Ereignisse zuverlässig zu verhindern. Rot- Grün hat sie wieder entfernt, hat dem toten Vampir den Pfahl aus der Brust gezogen und so dafür gesorgt, dass das Scheusal erneut die Augen aufschlagen konnte. Als dritter Schritt erfolgte der gelungene Versuch auch unserer Kanzlerin, während der Jahre 2007 und 2008 die Bankenrettung als ‘alternativlos’ zu verkaufen und dadurch die Staatsvermögen der einzelnen Eurostaaten zu den durch Fehlspekulation hochverschuldeten Banken zu transferieren.

Dem Finanzkapital wurde auf diesem Wege so ungeheure Macht zugespielt, dass die Politik heute kein ebenbürtiger Partner mehr ist. Mittlerweile sitzen unsere Volksvertreter ausnahmslos am kürzeren Ende des Hebels. Das ist der Grund dafür, dass inzwischen die öffentliche Infrastruktur zusehends privatisiert wird. Und dies endet eben nicht bei Autobahnen und Brücken, sondern reicht hinein bis in unsere Wasserversorgung, unser Schulsystem und das Gesundheitswesen. Das ist im Grunde genommen genau das, was TTIP will und was in vorauseilendem Gehorsam bereits vorweg eingeführt worden ist.

Durch ihre eigene Inkompetenz und Korrumpiertheit haben unsere Volksvertreter erreicht, dass sie mittlerweile in einer Falle sitzen, aus der es kein Entrinnen gibt. Und wie jeder, der in eine Falle geraten ist, möchten sie verständlicherweise gerne wieder raus aus der Nummer. Dies versuchen sie unter anderem, indem sie eine Notlüge nach der nächsten an die Öffentlichkeit lancieren und dies wiederum ist der Grund dafür, dass unsere einstmals kritischen Medien zu rückgratlosen, gehorsamen Sprachrohren umgebaut wurden. Von diesseits als auch jenseits des Atlantiks. Zusätzlich schleifen sie den Sozialstaat, um ihren neuen Herrn und Meister weiterhin luxuriös aushalten zu können und errichten einen beispiellosen Überwachungsstaat, um die brodelnde Volksseele auch weiterhin unter Kontrolle zu halten. Dies alles mitnichten aus Bösartigkeit, sondern einer ebenso stringenten wie auch unmenschlichen Logik folgend, weil sie glauben, anders nicht länger zurande kommen zu können. Dies ist Grund dafür, warum auch eine Demonstration mit hunderttausenden Menschen nichts bewirken kann, da die einzigen, die uns vor TTIP retten könnten, selbst in einer Mausefalle sitzen und somit handlungsunfähig sind.

Manch einem wird dieses Schema möglicherweise vertraut vorkommen, denn es ist exakt dasselbe Prinzip, welches schon einmal zum Erstarken des Nationalsozialismus’ und einem verheerenden Zweiten Weltkrieg geführt hat. Niemand beschreibt dies anschaulicher, als Kurt Tucholsky in seinem Gedicht:

Wenn die Börsenkurse fallen

Wenn die Börsenkurse fallen,
regt sich Kummer fast bei allen,
aber manche blühen auf:
Ihr Rezept heißt Leerverkauf.

Keck verhökern diese Knaben
Dinge, die sie gar nicht haben,
treten selbst den Absturz los,
den sie brauchen – echt famos!

Leichter noch bei solchen Taten
tun sie sich mit Derivaten:
Wenn Papier den Wert frisiert,
wird die Wirkung potenziert.

Wenn in Folge Banken krachen,
haben Sparer nichts zu lachen,
und die Hypothek aufs Haus
heißt, Bewohner müssen raus.

Trifft’s hingegen große Banken,
kommt die ganze Welt ins Wanken –
auch die Spekulantenbrut
zittert jetzt um Hab und Gut!

Soll man das System gefährden?
Da muss eingeschritten werden:
Der Gewinn, der bleibt privat,
die Verluste kauft der Staat.

Dazu braucht der Staat Kredite,
und das bringt erneut Profite,
hat man doch in jenem Land
die Regierung in der Hand.

Für die Zechen dieser Frechen
hat der Kleine Mann zu blechen
und – das ist das Feine ja –
nicht nur in Amerika!

Und wenn Kurse wieder steigen,
fängt von vorne an der Reigen –
ist halt Umverteilung pur,
stets in eine Richtung nur.

Aber sollten sich die Massen
das mal nimmer bieten lassen,
ist der Ausweg längst bedacht:
Dann wird bisschen Krieg gemacht. (Kurt Tucholsky)

Meinen Dank an Heinz Kruse für die gedankliche Anregung zu diesem Beitrag.



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