Das Glück mancher Linker; dritter Teil

Götterdämmerung wurde an dieser Stelle bereits zweifach betrieben. Zunächst wurde Ulrike Meinhof wiederbeatmet, danach musste Rudi Dutschke auferstehen. Beiden wurde unterstellt, sie würden, lebten sie heute noch, dem Mainstream verfallen sein. Ein Frevel? Möglich. Aber einer, der erlaubt sein muß, um denen den Spiegel vorzuhalten, die sich einst als Linke zu erkennen gaben und heute mit den Interessen des Kapitals ins Bett kriechen. Die senile Meinhof wurde zur Hardlinerin umgeschrieben, der alte Dutschke zum Lavierer zwischen Positionen - der heutige Linke, der sich selbst wahrscheinlich kaum als Linken wahrgenommen hat, er hätte im hohen Alter vielleicht resigniert.

Heute: Heinrich Böll

Nachdem er Anfang der Achtzigerjahre zur intellektuellen Koryphäe bürgerlichen Protests avancierte, wurde es später etwas ruhiger um ihn - mit dem Abflauen der Proteste wurde er von einer moralisch integeren Institution, wieder zum "intellektuellen Helfershelfer des Terrors", nachdem die dritten Generation der RAF mit neuer Offensive wütete. Die Realos unter den Grünen, die ja selbst noch kürzlich der Anti-AKW-Bewegung angehörten, hätten ihn rüde angefahren, weil er eigentlich ja niemals die Stimme des Protests war, sondern ein eloquenter Aufwiegler, der sich nicht von seinem Baader-Meinhof-Komplex lossagen will - mit solchen Leuten, erklärte die Realo-Fraktion, die Regierungsabsichten hegte, dürfen die Grünen nicht in Verbindung gebracht werden.

Der Nobelpreisträger hätte an der Wende als relativ stiller Beobachter teilgenommen. Das Alter und die Erfahrung, nur von jenem kleinen Teil der Bevölkerung als mahnende Stimme akzeptiert zu werden, der sich als links denkend bezeichnet, hätten ihn zur Stille ermutigt. Die Wendezeit war die Zeit rechter Tendenzen und Gesinnungen - jemand wie Böll, mittlerweile seit gut zwei Jahrzehnten in der Schusslinie konservativer und rechter Kreise, er hätte besser geschwiegen. Sicherlich hätte er weiterhin Bücher geschrieben, die sich auch ganz gut verkauft hätten - wo Böll oder Grass auf dem Buchdeckel steht, ist der, wenn schon nicht reißende, so doch der annehmbare Absatz, so gut wie gesichert. Seine Kritiker hätten ihm Zahnlosigkeit attestiert, der Biss früherer Tage fehle, die Geschichten würden banaler und weniger gesellschaftskritisch. Und tatsächlich, der Böll des wiedervereinten Deutschlands, der Berliner Republik und der Agenda 2010-Politik, er wäre ein Autor gewesen, der beredte Trivialliteratur auf den Buchmarkt geworfen hätte: Liebesgeschichten und Prosa statt Nachkriegsdramen und bundesrepublikanische Analysis.

Gefragt, warum er nun in seichteren Gewässern fische, hätte Böll geantwortet, dass er das gar nicht verleugnen wolle. Nachdem er jahrelang mürbe gemacht wurde, nachdem man ihn einen Terrorvater nannte, sein Haus durchsuchte, ihn nach der Protestzeit der Achtzigerjahre zum Aufwiegler abstempelte, habe er sich irgendwann dazu entschlossen, seine Meinung künftig weniger offen kundzutun. Als dann aus "Wir sind das Volk!" die nationalistische Parole "Wir sind ein Volk!" wurde, verschlug es ihm die Sprache - als Asylbewerberheime unter Beifall der Anwohner brannten, als man türkische Mädchen bei Autodafés abfackelte, da sah er sich plötzlich wieder in einem Großdeutschland gefangen. In jenen Wochen und Monaten wurde ihm klar, dass sein Wirken, das gesamte Wirken der intellektuellen Eliten Nachkriegsdeutschlands, vergebens war. Keine fünfzig Jahre nach dem Wahn, so hätte Böll traurig zu Protokoll gegeben, der erneute Wahnsinn - für was habe er damals in seinen Werken eigentlich die Stunde Null beschrieben? Warum aufklärerische Novellen wie jene über diese Katharina Blum, wenn das Organ, welches er darin ungenannt kritisierte, mittlerweile ungenierter hetzt als je zuvor? Alles umsonst!

Ich habe mich dann entschlossen, so würde er gesagt haben, Dinge zu Papier zu bringen, die ohne Substanz sind. Liebe und Eifersucht etwa, ewige menschliche Themen - alles andere, was er thematisiert hatte, es passte nicht mehr in diese neue alte Zeit. Er habe es satt, resignierte er leise, Dinge zu beschreiben, sie anzuklagen, die hernach genauso stattfinden wie ehemals. Warum sollte er nochmals Reden halten, in denen er von der Separationspolitik der Nationalsozialisten erzählt, wenn gleichzeitig die amtierende Regierung Separationspolitik gegen Menschen betreibt, die ökonomisch schwächeln? Für was das alles? Sein Lebenswerk, so würde er das Interview beschließen, es sei zerstört - er habe in der guten Hoffnung geschrieben, wenigstens ein klein wenig bewirkt zu haben; aber bewirkt habe er nichts. Daher Liebesgeschichten, die lesen sich in fünfzig Jahren noch genauso gut oder schlecht wie gegenwärtig.


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