Es war einmal ein alter Mann, der zusammen mit seinem einzigen Sohn in einer kleinen Hütte am Rande des Dorfes lebte. Ihr einziger Besitz war ein wunderschöner weißer Hengst, um den sie von allen im Dorf beneidet wurden. Selbst der Kaiser träumte davon, dieses Pferd zu besitzen. Er bot dem Bauern Säcke voller Gold und Diamanten, doch dieser schüttelte beharrlich den Kopf und sagte: “Mir fehlt es an nichts. Der Hengst dient mir seit vielen Jahren und ist mir zum Freund geworden.”
Eines Morgens ist der Hengst verschwunden. Die Leute im Dorf sind bestürzt: “Du könntest ein reicher Mann sein. Jetzt bist du ärmer als je zuvor. Kein Pferd zum Arbeiten und kein Gold zum Leben. Jetzt musst du mit deinem Sohn selber pflügen. Oh, was für ein Pech du hast!”
Der alte Bauer blickt bedächtig in die Runde und sagt: “Was redet ihr da? Der Hengst steht nicht mehr im Stall, das ist alles, was ich weiß. Vielleicht ist es ein Pech, vielleicht auch nicht. Wer weiß das schon genau?”
Am nächsten Tag kommt der Hengst zurück. Doch er ist nicht alleine. Er wird begleitet von sechs Wildpferden, die ihm in den Stall folgen.
Das ganze Dorf sagt: “Oh, was hast du für ein Glück! Jetzt hast du sieben Pferde und bist doch noch zum reichen Mann geworden. Wer hätte gedacht, dass dir noch einmal soviel Glück beschieden wäre?”
Der Bauer schaut gelassen in die aufgeregte Menschenmenge und erwidert: “Ihr interpretiert zuviel. Sagt einfach: Jetzt hat er sieben Pferde. Ob das Glück oder Unglück bringt, niemand weiß es zu sagen. Wir sehen immer nur Bruchstücke. Wie will man da das Ganze beurteilen? Das Leben ist so unendlich vielfältig und überraschend.”
Kurz darauf versucht der einzige Sohn des Bauern, eines der Wildpferde zu reiten. Er wird abgeworfen und bricht sich den Fuß. Nun kann er seinem Vater nicht mehr auf dem Feld helfen.
Die Leute im Dorf sagen zum Vater: “Oh, was für ein Unglück du hast! Allein ist das doch viel zu viel Arbeit.”
Nur der Bauer zuckt mit den Schultern und sagt: “Ihr seid vom Urteilen besessen und malt die Welt entweder schwarz oder weiß. Habt ihr noch immer nicht begriffen, dass wir nur Bruchstücke des Lebens wahrnehmen? Das Leben zeigt sich uns nur in winzigen Ausschnitten, doch ihr tut, als könntet ihr das Ganze beurteilen. Tatsache ist, dass mein Sohn den Fuß gebrochen hat. Ob das ein Glück oder Unglück ist? Mal sehen, denn wer weiß? Das Leben geht seinen eigenen Weg, man soll nicht urteilen und kann nur vertrauen.”
Ein paar Tage darauf bricht ein Krieg aus. Der Kaiser zieht alle jungen Männer zum Wehrdienst ein. Das ganze Dorf ist von Wehklagen und Trauer erfüllt, denn alle wissen, dass die meisten Männer aus diesem blutigen Krieg nicht mehr heimkehren werden. Nur den Sohn des Bauern zieht der Kaiser nicht zum Wehrdienst ein, denn ihn mit seinem gebrochenen Fuß kann man nicht gebrauchen.
Die Nachbarn sagen: “Was für ein Glück du hast! Wir sehen unsere Lieben bestimmt nie wieder. Dein Sohn aber wird bei dir sein und mit der Zeit auch wieder auf dem Feld mithelfen können.”
Wieder zuckt der Bauer nur mit den Schultern und sagt: “Glück? Mal sehen, denn wer weiss? Das Leben geht seinen eigenen Weg, man soll nicht urteilen und kann nur vertrauen.”
Diese Geschichte zeigt: Jedes Glück kann auch ein Unglück sein und jedes Unglück ein großes Glück. Es kommt immer auf die Perspektive an. Dann können Dinge, die uns widerfahren, zur Chance werden.
Wie durch ein Schlüsselloch betrachten wir das Leben, und doch glauben wir, das Ganze zu sehen. Niemand von uns weiß, wie sich das große Bild zusammensetzt. Was eben noch ein großes Unglück scheint, mag sich im nächsten Moment als Glück erweisen und umgekehrt gilt das gleiche.
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Bild: Christopher Schoenbohm