So schnell kann es gehen: Eine Sekunde nicht aufgepasst und Hand und Fuß kaputt.
Dafür interessante Einsichten in unser theoretisch supergutes aber praktisch schon halbtot gespartes Gesundheitssystem. Wobei, der Rettungswagen war innerhalb von einer Viertelstunde da – was man im Zentrum in einer deutschen Großstadt auch erwarten kann. Dann aber das Warten in der Notaufnahme: Gut drei Stunden ohne Versorgung mit einer offensichtlich gebrochenen Hand und einem nicht ganz so offensichtlich gebrochenem Fuß, das tat weh. Wobei ich natürlich einsehe, dass so richtig Schwerverletzte und Kinder Vorrang haben. Schwerverletzte gab es einige – die Motorradsaison hatte begonnen. Blöd von mir, an einem solchen Tag mit einem lächerlichen Durchschnittsunfall in die Notaufnahme zu kommen.
Ungefähr so fühlte ich mich nach meinem Unfall.
Nach drei Stunden zum Röntgen, offensichtlicher Bruch der linken Hand bestätigt sich als mehrfragmentäre distale Radiusextensionsfraktur. Jetzt hat der Schmerz einen Namen. Der Fuß heißt “nicht dislozierte Basisfraktur der Metatarsale II”. Nach einer weiteren Stunde hat der Assistenzarzt endlich Zeit, meine Hand zu richten. Die Hand wird an den Fingern aufgehängt, um den Oberarm kommt eine Manschette, an die Gewichte gehängt werden. Ich stöhne.
Ein Pfleger kommt auf die Idee, zu fragen ob ich ein Schmerzmittel möchte. Ich möchte. Der Assistenzarzt gibt mir eine Spritze direkt ins kaputte Handgelenk – es ist wunderbar, als der Schmerz nachlässt. Dann ziehen der Pfleger und der Arzt gemeinsam an meinem Arm und gipsen das Ergebnis ein, bevor sich wieder etwas verschieben kann. Muss so bald wie möglich operiert werden, heißt es. Deshalb bekomme ich nichts zu essen. Auch nichts zu trinken. Inzwischen ist es halb acht abends. Meine letzte Mahlzeit war das Frühstück. Gegen zehn Uhr werde ich aus dem Flur der Notaufnahme auf Station verschoben. Die Schwestern sind sauer – warum schickt die Rettungsstelle immer Patienten hoch, wenn Dienstübergabe ist? Diese Frage kann ich nicht beantworten.
Immerhin findet sich ein Platz in einem Zwei-Bett-Zimmer für mich. Und ich kann endlich telefonieren – unten in der Rettungsstelle gabs kein Netz.
Am nächsten Morgen bekomme ich ein Krankenhaus-Nachthemd und jede Menge Papiere, die ich unterschreiben muss. Krankenkasse, Zuzahlung, Vollmachten, Aufklärung. Stimme ich einer Sektion zu, falls ich sterbe? Gibt es eine Patientenverfügung? Stimme ich einer Organentnahme zu? Ja, nein, nein, ich will doch gar nicht sterben!
Frühstück bekomme ich nicht, ich soll ja operiert werden, am frühen Nachmittag heißt es. Ich bekomme Schmerztabletten, dazu darf ich einen Schluck Wasser trinken. Ich warte. Draußen scheint die Sonne. Immerhin stehen vor dem Fenster Bäume, ihr frisches Grün spielt mit dem Sonnenlicht. Die Stunden vergehen.
Ich werde vertröstet, zu viele Schwerverletzte, die versorgt werden müssen. Schließlich ist genau diese Klinik ein Polytrauma-Zentrum, also auf die Versorgung von Mehrfach- und Schwerverletzten spezialisiert. Meine Verletzung ist nicht lebensbedrohlich, daher habe ich keine Priorität. Zwischendurch kommt jemand, der einen Stützschuh für meinen kaputten Fuß bringt. Das Teil ist riesig und sieht aus wie ein Stück von einem Weltraumanzug. Aber damit kann ich wenigstens zur Toilette humpeln.
Irgendwann wird meine OP abgesagt. Ist vielleicht auch nicht so schlecht, denke ich bei mir. Die Vorstellung, dass mein Arm von Chirurgen aufgeschnitten wird, denen das Skalpell vor Übermüdung aus der Hand fällt, hatte mich von Stunde zu Stunde mehr beunruhigt.
Ich bin ohnehin schon ganz zittrig, weil ich seit fast zwei Tagen nichts gegessen habe. Abendbrotzeit ist schon vorbei, aber eine Schwester bringt mir ein Tablett mit ein paar Scheiben Knäckebrot und eine Tasse Pfefferminztee. Der Oberarzt kommt vorbei und überlegt. Morgen sei der OP-Plan auch ohne Notfälle schon voll. Danach ist Feiertag. Am besten, ich werde in ein anderes Krankenhaus verlegt, wo es weniger akute Fälle gibt, damit ich morgen auf jeden Fall operiert werden kann. Er werde telefonieren, verspricht er. Die Schwester holt das Tablett ab und sagt, dass es nun einmal zuwenig Personal gebe, sie hätte selbst eine Woche auf einen Operationstermin warten müssen, als sie einen brauchte.
Der Oberarzt kommt zurück und sagt, er habe für mich einen Termin an einem anderen Standort gebucht: “Morgen früh kommt der Transport und Sie sind die Nummer drei auf der Liste, Sie werden auf jeden Fall morgen operiert!” Ich beschließe, erleichtert zu sein und schlafe ein.
Am nächsten Morgen gibt es wieder kein Frühstück für mich, meine Sachen werden in eine Plastiktüte mit der Aufschrift “Bitte beachten: Patienteneigentum!” gepackt, dann kommen die Jungs vom Krankentransport. Ich kann sitzend transportiert werden, wir nehmen noch eine weitere Patientin mit, die auf die Liege kommt. Auch sie soll heute noch operiert werden. OP-Tourismus.
In der anderen Klinik dann eine angenehme Überraschung – der freundliche Oberarzt hat mir ein Einzelzimmer für Privatpatienten reservieren lassen. Es sieht mit hellen Holzmöbeln, Laminatfußboden und freundlichen Gardinen fast ein Hotelzimmer aus und hat einen schönen Ausblick. Es gibt sogar ein richtiges Badezimmer.
Ich lege mich ins Luxuskrankenbett und mache es mir so gemütlich wie es mit meinen gebrochenen Gliedmaßen eben geht. Kaum habe ich das getan, kommt die Visite. Der Chefarzt persönlich segelt mit einer ganzen Armada von Assistenzärzten herein. Er weist mich noch einmal darauf hin, wie schön ich es hier doch hätte und ich erwidere, dass ichs so schön fände, dass ich gar nicht mehr nach Hause möchte. “Ich höre da doch eine feine Ironie”, stellt der Chefarzt fest. “Aber keine Sorge, Sie werden bei uns heute noch operiert. Und genießen Sie den Aufenthalt, dieses Zimmer kostet kostet sonst 150 Euro pro Tag extra. Sie bekommen es ausnahmsweise ohne Aufpreis!” Und die Armada segelt weiter.
Am späten Vormittag kommt ein Pfleger, der mich für die OP abholt. Wieder bekomme ich ein OP-Hemd, dieses Mal aber auch eine Haube für die Haare und eine Tablette, die ich mit einem Schluck Wasser runterspülen darf. Dann fahren wir zum OP.
Mir fällt auf, dass die Wände im Privattrakt schönere Farben haben, auch der Fußbodenbelag sieht viel edler aus als auf den anderen Stationen. Es gibt auch einem Wartebereich mit gepolsterten Stühlen und Grünpflanzen statt der sonst üblichen Plastikschalen, die im Flur festgeschraubt sind.
Im Warteraum vor den Operationssälen ist dann aber alles hässlich zweckmäßig. Zwischen verstellbaren Vorhängen stehen mehrere fahrbare Liegen mit Patienten in Warteposition. Ich werde in der Mitte geparkt. Auf der einen Seite wird jemand, der gerade aufwacht, abgeholt, auf der anderen Seite jemand in den OP geschoben. Fließbandbetrieb.
Der Anästhesist kommt und erklärt mir noch einmal, was er tun will, während schon ein Tropf mit einem Beruhigungsmittel angehängt wird – die Kanüle dafür habe ich ja schon seit dem Tag zuvor in der Hand. Für die Operation bekomme ich keine Vollnarkose, sondern eine Armplexusanästhesie: die Armnerven werden von der Schulter aus betäubt. Ich habe Angst, aber das Beruhigungsmittel wirkt schnell – ich halte ganz still, während der Arzt gemeinsam mit einer Assistentin per Ultraschall die richtigen Einstichstellen sucht und dann per Elektroreiz überprüft, welchen Nerv er erwischt hat. Er ist nicht zufrieden, als die falschen Muskeln zucken und sucht eine Weile, aber schließlich fängt mein Arm an zu kribbeln und schläft ein.
Er muss noch eine ganze Weile schlafen, denn irgendwas scheint im Plan durcheinander gekommen zu sein. Nach gut einer Stunde wird ein weiterer Patient von dem OP in den Durchgangsraum geschoben, aber ich bin noch nicht dran. Komplikationen, heißt es. Gut, dass das Beruhigungsmitteln mich so schön einlullt.
Eine weitere Stunde vergeht. Jetzt wird der Anästhesist ungeduldig und interveniert. Schließlich hält meine Betäubung nicht ewig vor, auch wenn er in weiser Voraussicht ein Medikament mit langer Wirkzeit gespritzt hat. Er schiebt mich kurzerhand in den Durchgang zum OP. Der OP müsse noch geputzt werden, heißt es jetzt, dort wäre eine ziemliche Schweinerei passiert und der andere OP sei derzeit nicht in Betrieb.
Eigentlich sollte das OP-Programm bis 13 Uhr durch sein, aber jetzt ist es schon fast 14 Uhr. Der Putztrupp trifft ein und drückt sich an mir vorbei. Leider lässt mein Beruhigungsmittel und damit dieses herrliche Alles-egal-Gefühl inzwischen nach.
Nach einer Ewigkeit ist der OP geputzt, aber trocken werden muss der Boden auch noch, die Chirurgen sollen ja nicht ausrutschen. Um halb drei ist es endlich so weit: Ich bin dran. An der Decke über mir sehe ich Blutspritzer. Ich kann mir aussuchen, ob ich schlafen oder Musik hören will und entscheide mich für die Musik. Entspannende Klassik. Eine Art Zelt wird über meinem Kopf aufgebaut, dann geht es los.
Durch die Musik hindurch höre ich Stimmen: “Geht es Ihnen gut?” Ich nicke. “Können wir etwas auf Ihrem Bauch ablegen?” Ich nicke. Irgendwelche Instrumente werden abgelegt. Ich spüre, dass eifrig an meinem Arm gewerkelt wird, aber es tut nicht weh. Ich fühle mich ein bisschen wie in der Werkstatt: “Zieh mal am Daumen – halt nicht so sehr!” – “Mist, ist dieser Bohrer stumpf!” – “Wir probieren das jetzt mal anders!” – “Hast du den Schraubendreher?”
Dazwischen auch Fachgesimpel über die lästigen Jahresverträge, die Kürzungen und die Tücken bestimmter Fachrichtungen. Meine Chirurgin ist Fachärztin für Unfallchirugie und für Orthopädie, wollte aber eigentlich lieber Internistin werden, höre ich. Warum sie sich nicht einfach als D-Ärztin selbständig mache, will der Assistenzarzt wissen. Da habe sie doch viel angenehmere Arbeitszeiten und könne mehr verdienen. Dafür fehle wiederum die spezielle Unfallchirurgie und mit fast 50 habe sie keinen Bock mehr auf diesen Scheiß, also eine weitere Facharztausbildung. Tja, auch andere Akademiker haben es nicht leicht, denke ich.
Durch einen Spalt in den Tüchern, die mein Zelt bilden, kann ich auf einem Monitor Röntgenbilder von meinem Unterarm sehen, mit Metallplatte und diversen Schrauben. Die Chirurgin ist noch nicht zufrieden. “Die mittlere Schraube machen wir nochmal!” Erneut wird geschraubt, gebohrt und geschraubt. “Bevor wir zunähen, lösen wir die Blutsperre und warten ein paar Minuten!” Die Druckmanschette an meinem Oberarm wird gelöst.
Offenbar ist alles gut, denn jetzt reden sie über die Naht. Dann wird der Vorhang abgebaut und man nimmt mir die Kopfhörer ab. Es ist jetzt fast 16 Uhr. Auf dem Monitor sehe ich meinen neu verschraubten Unterarm. Die Chirurgin scheint zufrieden: “Den nehmen wir!” Die Aufnahme wird ausgedruckt. “Na, was sagen Sie dazu?!” Sie schaut mich erwartungsvoll an. “Sieht super aus!” sage ich. “Das meine ich aber auch!” bestätigt sie.
Um mich herum beginnt ein großes Abräumen. Ich werde in den Vorraum zurück geschoben. Dort ist eine Diskussion im Gange. Schon 16 Uhr und noch drei OPs, das geht nicht. Aber zwei Patienten sind schon vorbereitet. “Dann machen wir die Patella noch, aber wer macht dann die Hüfte? Und Nummer drei absagen!”
Bin ich froh, dass ich diesmal nicht die Absage bin! Eine weitere Stunde später liege ich wieder in meinem schönen Zimmer, der Arm schläft zum Glück noch. Meine Kinder waren da, wird mir berichtet, sie wollen später noch mal wieder kommen. Aber ich konnte ja nicht ahnen, dass es so lange dauert! Ich brauche ja ein paar Sachen, die es in Krankenhäusern heutzutage nicht gibt, eine Zahnbürste und Zahnpasta beispielsweise, eine Haarbürste oder Slipeinlagen. Daran hatte ich drei Tage zuvor nicht gedacht. Oder eine Hose, die über diesen Mondstiefel passt und die ich mit einer Hand anziehen kann.
Und weil das Schreiben mit einer Hand anstrengend ist, mache ich an dieser Stelle jetzt mal Schluss. Fortsetzung folgt.