ES BLEIBT KEIN MENSCH AUF EWIG EIN SKLAVE. AN SEINEM ENDE GEHT ER DOCH ALS FREIER MANN.
(Vincent Deeg)
Daddy, Daddy, sieh mal, was ich gefunden habe, rief der kleine Dennis, während er aufgeregt und mit hoch erhobener Hand auf seinen Vater Mike zu lief, der unweit von ihm auf einer der Bänke saß, die die Stadt für die Besucher der Freiheitsstatur auf Liberty Island aufgestellt hatte und die Sonne und den fantastischen Anblick genoss, den ihm die gegenüberliegende und von Licht überflutete Skyline von New York bot.
Was hast Du denn gefunden? Fragte der Mann neugierig, bevor ihm Dennis seinen kotbaren Fund in die geöffnete Hand legte. Es war ein etwa postkartengroßes, etwas verblichenes und an manchen Stellen stark geknicktes Foto, an dessen vier Ecken jeweils ein transparenter Klebestreifen klebte, mit deren Hilfe man dieses Bild offensichtlich an der Stelle befestigt hatte, an der es Dennis fand.
Das ist doch nur ein Foto. Sagte Mike lächeln zu seinem Sohn, während er ihm über das Haar strich und das Bild für einen Augenblick betrachtete. Er konnte nicht wissen, welche Bedeutung dieses vergilbte Foto tatsächlich hatte. Doch er sollte, als Mike es umdrehte, als er die Worte las, die auf dessen Rückseite mit Kugelschreiber geschrieben standen eine schwache Ahnung davon bekommen, dass es sich bei dem Bild, das er da in seinen Händen hielt um mehr handelte, als nur um irgendein Foto.
Du hast Recht Dennis. Das ist wirklich etwas Besonderes. Sagte Mike leise, während er seinen inzwischen ernsten und sehr nachdenklichen Blick von dem Bild abwandte, seinen Sohn erst in den Arm und dann an die Hand nahm, um das Foto gemeinsam mit ihm dort hin zurück zu bringen, wo ein anderer es zuvor zurück gelassen hatte.
*
Was könnte dieses Foto gezeigt, welche Worte könnte auf dessen Rückseite gestanden haben? Worte, die, wie es schien schuld daran waren, dass sich Mike´s zuvor lächelnde Gesicht plötzlich in eine ernste und nachdenkliche Mine verwandelte? Was konnte die Ursache dafür gewesen sein, dass derselbe Mann, der dieses Foto eben noch für ein wertloses Stück Papier gehalten hatte, dieses plötzlich als etwas Besonderes ansah?
Die Antwort auf diese Fragen liegt in einer anderen Geschichte. In der Geschichte von Andrée und Peter.
*
Andrée und Peter kannten sich schon lange. Sie waren zusammen in den Kindergarten und später, als sie etwas älter waren, zusammen in die Schule gegangen. Ein glückliches Kinderleben, das bis dahin, abgesehen vielleicht von ein paar schlechten Zensuren, ein paar zerschundenen Knien und der einen oder anderen zerrissenen Hose kaum einen Schatten kannte.
Doch das änderte sich, als die beiden älter und schließlich zu jungen Männern wurden. Als sie zu erkennen begannen, dass diese heile Welt, die man ihnen als Kinder in der Schule immer wieder vorgaukelte mit der Realität nur wenig, bis gar nichts zu tun hatte.
Nun begriffen sie, dass die DDR, die sich der Welt und vor allem seinen Bürgern nur all zu gern als Überstaat präsentierte, nur aus einem riesigen und aus Lügen gemachten Käfig bestand, der seine Insassen nicht nur gefangen hielt, sondern langsam erdrückte.
Kein Wunder also, dass sie irgendwann beschlossen, diesen unmenschlichen Staat, in dessen Visier auch sie sehr bald gerieten auf dem schnellsten, also auf illegalen Wege zu verlassen.
*
Es war ein, zumindest aus damaliger Sicht guter Plan, den Andrée und Peter damals hatten. Ein Plan, in dem sie im Schutze der nächtlichen Dunkelheit mit einem extra verstärkten Kanu vom Ostseebadeort Ahrenshoop zur etwa vierzig Kilometer entfernten Dänischen Küste paddeln wollten.
Natürlich war beide klar, dass dieser Plan gefährlich war. Doch da sie absolut von dessen Gelingen überzeugt waren, konnten sie weder die vielen Grenzboote abschrecken, die zu jeder Tag und Nachtzeit die Ostseeküste der DDR kontrollierten, noch die zu jeder Zeit bestehende Gefahr, in schwere See zu geraten und zu ertrinken.
*
Wenn wir drüben sind, dann fliegen wir beide erst einmal für ein paar Tage nach New York. Sagte Andrée noch leise lachend, als sie das Kanu unbemerkt aus ihrem alten Wartburg Kombi zerrten, es heimlich durch das nahe am Strand wachsende Waldstück trugen, um es sofort, nachdem sie den Strand erreicht und sich noch einmal davon überzeugt hatten, auch wirklich allein zu sein ins Wasser zu setzen.
Das machen wir auf jeden Fall. Antwortete Peter flüsternd, bevor er sich zu seinem Freund ins Boot setzte, es mit seinem Paddel und einem kräftigen Stoß abstieß und die beiden Freunde in der Dunkelheit verschwanden.
*
Zu dieser Zeit konnten Andrée und Peter noch nicht ahnen, dass ihre Fahrt bereits nach etwas über einem Kilometer zu Ende gehen, dass sie eines der dort patrouillierenden Küstenschutzschiffe nicht nur entdecken, sondern sie auch noch mit seinen Bordwaffen beschießen würde.
Ein gezielter Beschuss aus einem 22 mm Zwillingsgeschütz, das nach späterer Aussage ein missglückter Warnschuss war. Eine aus etwa zwei Kilometer abfeuerte Salve, deren warnende Wirkung nicht nur das kleine Kanu zerfetzte, sondern auch Peters Freund Andrée.
*
Peter wurde damals unverletzt aus dem Wasser gezogen und später wegen des § 213 des Strafgesetzbuches der DDR (Ungesetzlicher Grenzübertritt) zu einer Haftstrafe von einem Jahr und sechs Monaten verurteilt, welche er im berüchtigten Stasigefängnis Bautzen II verbrachte.
Der Zwischenfall auf See, der seinem Freund das Leben kostete, kam bis zum Ende des SED Regimes nicht mehr zur Sprache. Es war nach Ansicht der damaligen Regierung nie passiert.
**
Was aber hat diese Geschichte mit dem Foto zu tun, das der kleine Dennis aus New York am Sockel der Freiheitsstatur fand und das seinen Vater Mike so ernst und nachdenklich hat werden lassen?
Eine Frage, deren Antwort in den Worten liegt, die Peter seinem Freund sagte, als sie ihre Flucht begannen. Als er ihm sagte, dass er gemeinsam mit ihm nach New York reisen würde. Worte, die nicht etwa leer, sondern die ein Versprechen waren.
Eines, das Peter, als die Mauer endlich fiel einlöste. Als er, mit ein wenig Geld und diesem alten und verblichenen Foto in der Tasche nach Amerika flog. Dort, wo er die Worte
„Andrée was here. murdered 1985 in east germany.“
mit einem Kugelschreiber auf dessen Rückseite schrieb und das Bild, das das Gesicht eines freundlich lächelnden und lebensfrohen jungen Mannes zeigte, mit Blick auf die Skyline von New York an den Sockel der Freiheitsstatur klebte.
Diese Geschichte beruht auf eine wahre Begebenheit. Sie wurde mir von einem guten Freund erzählt.
Alle hier beschriebenen Namen wurden geändert.
(Vincent Deeg)
Daddy, Daddy, sieh mal, was ich gefunden habe, rief der kleine Dennis, während er aufgeregt und mit hoch erhobener Hand auf seinen Vater Mike zu lief, der unweit von ihm auf einer der Bänke saß, die die Stadt für die Besucher der Freiheitsstatur auf Liberty Island aufgestellt hatte und die Sonne und den fantastischen Anblick genoss, den ihm die gegenüberliegende und von Licht überflutete Skyline von New York bot.
Was hast Du denn gefunden? Fragte der Mann neugierig, bevor ihm Dennis seinen kotbaren Fund in die geöffnete Hand legte. Es war ein etwa postkartengroßes, etwas verblichenes und an manchen Stellen stark geknicktes Foto, an dessen vier Ecken jeweils ein transparenter Klebestreifen klebte, mit deren Hilfe man dieses Bild offensichtlich an der Stelle befestigt hatte, an der es Dennis fand.
Das ist doch nur ein Foto. Sagte Mike lächeln zu seinem Sohn, während er ihm über das Haar strich und das Bild für einen Augenblick betrachtete. Er konnte nicht wissen, welche Bedeutung dieses vergilbte Foto tatsächlich hatte. Doch er sollte, als Mike es umdrehte, als er die Worte las, die auf dessen Rückseite mit Kugelschreiber geschrieben standen eine schwache Ahnung davon bekommen, dass es sich bei dem Bild, das er da in seinen Händen hielt um mehr handelte, als nur um irgendein Foto.
Du hast Recht Dennis. Das ist wirklich etwas Besonderes. Sagte Mike leise, während er seinen inzwischen ernsten und sehr nachdenklichen Blick von dem Bild abwandte, seinen Sohn erst in den Arm und dann an die Hand nahm, um das Foto gemeinsam mit ihm dort hin zurück zu bringen, wo ein anderer es zuvor zurück gelassen hatte.
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Was könnte dieses Foto gezeigt, welche Worte könnte auf dessen Rückseite gestanden haben? Worte, die, wie es schien schuld daran waren, dass sich Mike´s zuvor lächelnde Gesicht plötzlich in eine ernste und nachdenkliche Mine verwandelte? Was konnte die Ursache dafür gewesen sein, dass derselbe Mann, der dieses Foto eben noch für ein wertloses Stück Papier gehalten hatte, dieses plötzlich als etwas Besonderes ansah?
Die Antwort auf diese Fragen liegt in einer anderen Geschichte. In der Geschichte von Andrée und Peter.
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Andrée und Peter kannten sich schon lange. Sie waren zusammen in den Kindergarten und später, als sie etwas älter waren, zusammen in die Schule gegangen. Ein glückliches Kinderleben, das bis dahin, abgesehen vielleicht von ein paar schlechten Zensuren, ein paar zerschundenen Knien und der einen oder anderen zerrissenen Hose kaum einen Schatten kannte.
Doch das änderte sich, als die beiden älter und schließlich zu jungen Männern wurden. Als sie zu erkennen begannen, dass diese heile Welt, die man ihnen als Kinder in der Schule immer wieder vorgaukelte mit der Realität nur wenig, bis gar nichts zu tun hatte.
Nun begriffen sie, dass die DDR, die sich der Welt und vor allem seinen Bürgern nur all zu gern als Überstaat präsentierte, nur aus einem riesigen und aus Lügen gemachten Käfig bestand, der seine Insassen nicht nur gefangen hielt, sondern langsam erdrückte.
Kein Wunder also, dass sie irgendwann beschlossen, diesen unmenschlichen Staat, in dessen Visier auch sie sehr bald gerieten auf dem schnellsten, also auf illegalen Wege zu verlassen.
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Es war ein, zumindest aus damaliger Sicht guter Plan, den Andrée und Peter damals hatten. Ein Plan, in dem sie im Schutze der nächtlichen Dunkelheit mit einem extra verstärkten Kanu vom Ostseebadeort Ahrenshoop zur etwa vierzig Kilometer entfernten Dänischen Küste paddeln wollten.
Natürlich war beide klar, dass dieser Plan gefährlich war. Doch da sie absolut von dessen Gelingen überzeugt waren, konnten sie weder die vielen Grenzboote abschrecken, die zu jeder Tag und Nachtzeit die Ostseeküste der DDR kontrollierten, noch die zu jeder Zeit bestehende Gefahr, in schwere See zu geraten und zu ertrinken.
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Wenn wir drüben sind, dann fliegen wir beide erst einmal für ein paar Tage nach New York. Sagte Andrée noch leise lachend, als sie das Kanu unbemerkt aus ihrem alten Wartburg Kombi zerrten, es heimlich durch das nahe am Strand wachsende Waldstück trugen, um es sofort, nachdem sie den Strand erreicht und sich noch einmal davon überzeugt hatten, auch wirklich allein zu sein ins Wasser zu setzen.
Das machen wir auf jeden Fall. Antwortete Peter flüsternd, bevor er sich zu seinem Freund ins Boot setzte, es mit seinem Paddel und einem kräftigen Stoß abstieß und die beiden Freunde in der Dunkelheit verschwanden.
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Zu dieser Zeit konnten Andrée und Peter noch nicht ahnen, dass ihre Fahrt bereits nach etwas über einem Kilometer zu Ende gehen, dass sie eines der dort patrouillierenden Küstenschutzschiffe nicht nur entdecken, sondern sie auch noch mit seinen Bordwaffen beschießen würde.
Ein gezielter Beschuss aus einem 22 mm Zwillingsgeschütz, das nach späterer Aussage ein missglückter Warnschuss war. Eine aus etwa zwei Kilometer abfeuerte Salve, deren warnende Wirkung nicht nur das kleine Kanu zerfetzte, sondern auch Peters Freund Andrée.
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Peter wurde damals unverletzt aus dem Wasser gezogen und später wegen des § 213 des Strafgesetzbuches der DDR (Ungesetzlicher Grenzübertritt) zu einer Haftstrafe von einem Jahr und sechs Monaten verurteilt, welche er im berüchtigten Stasigefängnis Bautzen II verbrachte.
Der Zwischenfall auf See, der seinem Freund das Leben kostete, kam bis zum Ende des SED Regimes nicht mehr zur Sprache. Es war nach Ansicht der damaligen Regierung nie passiert.
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Was aber hat diese Geschichte mit dem Foto zu tun, das der kleine Dennis aus New York am Sockel der Freiheitsstatur fand und das seinen Vater Mike so ernst und nachdenklich hat werden lassen?
Eine Frage, deren Antwort in den Worten liegt, die Peter seinem Freund sagte, als sie ihre Flucht begannen. Als er ihm sagte, dass er gemeinsam mit ihm nach New York reisen würde. Worte, die nicht etwa leer, sondern die ein Versprechen waren.
Eines, das Peter, als die Mauer endlich fiel einlöste. Als er, mit ein wenig Geld und diesem alten und verblichenen Foto in der Tasche nach Amerika flog. Dort, wo er die Worte
„Andrée was here. murdered 1985 in east germany.“
mit einem Kugelschreiber auf dessen Rückseite schrieb und das Bild, das das Gesicht eines freundlich lächelnden und lebensfrohen jungen Mannes zeigte, mit Blick auf die Skyline von New York an den Sockel der Freiheitsstatur klebte.
Diese Geschichte beruht auf eine wahre Begebenheit. Sie wurde mir von einem guten Freund erzählt.
Alle hier beschriebenen Namen wurden geändert.