Das fliegende Fahrrad

Fliegender TeppichGestern bin ich mit dem Fahrrad freihändig gefahren!!!

Wie? JA! Also, ja, klar, das ist nix besonderes. Ich erwarte auch nicht, dass mir jetzt alle Welt zujubelt„Beware! Beware! His flashing eyes, his floating hair!“ – der große Der-Mit-Dem-Fahrrad-Freihändig-Fährt ist wieder da!

Aber manchmal ist es halt so, dass man etwas, das man schon tausendmal gemacht hat, plötzlich als etwas ganz neues und aufregendes erlebt. Und das war gestern so. Ich fuhr am Sachsendamm einen kleinen Abhang runter, und das Wetter war herrlich, und ich fühlte mich ausgelassen, und ich ließ den Lenker los – und das Fahrrad fuhr von alleine weiter! Ich musste nichts tun. Alles ging wie von selbst – in magischer Selbstverständlichkeit.

Hilde Domin

Hilde Domin

Frau Hilde Domin, Dichterin, kenne ich eigentlich gar nicht. Ich weiß lediglich von ihrer Existenz, weil in meiner Kindheit über der Verbuchungstheke unserer Stadtbibliothek jahrelang ein Plakat hing „Hilde Domin liest – 28. September 1988“, darunter das Foto einer alten Dame, am Schreibtisch sitzend, mit Stift, dichtend, den Blick allerdings zur Kamera gerichtet, man war ja schließlich gerade beim Fototermin. Jahre später begegnete mir der Name wieder, als ich mich – das dürfte um die Jahrtausendwende gewesen sein – mit Nelly Sachs beschäftigte, zu deren ersten Fürsprecherinnen Frau Domin einst gehörte. Und dann – zum dritten Mal – taucht die Dame nun dauernd in irgendwelchen Bastelvereinsmonatsschriften auf mit einem Satz, der durch übermäßiges Zitieren leider unerträglich geworden ist: „Ich setzte den Fuß in die Luft / und sie trug.“

Die Metapher ist nun etwas betulich und darum prädestiniert für Kaninchenzüchterbulletins. Während ich gestern mit meinem magischen Fahrrad über den Sachsendamm flog, kam mir jedoch in den Sinn, dass man sie auch ganz anders deuten könnte – nämlich virtuos.

So wie die Metapher gemeint ist, ist Angst und Verzweiflung ihr Auslöser. Frau Domin setzt den Fuß in die Luft, weil ihr die Verfolger auf den Fersen sind, oder weil sie von der Brücke springen will, oder weil alle anderen Wege erst recht nicht gehen. Und dann verwandelt sich die Verzweiflung in Glück. Unerwarteterweise trägt die Luft. Der ungangbare Weg wird gangbar.

Liest man die Metapher gegen den Strich, ist hingegen nicht Verzweiflung ihre Triebfeder, sondern Selbstvertrauen. Der Virtuose setzt den Fuß in die Luft – nicht deshalb, weil er weiß, dass sie nicht tragen wird, und ihm das egal ist, sondern ganz im Gegenteil deshalb, weil er weiß, dass sie tragen wird. Die Luft trägt hier unerwarteterweise nur für den Zuschauer – der Virtuose hingegen erwartet es! Der Weg scheint nur fürs Publikum ungangbar, der Virtuose weiß ihn zu beschreiten.

Der Hilde-Dominsche Akteur handelt aus Schwäche, der virtuose Akteur handelt aus Stärke. Damit wird der Spruch für alle Selbsthilfegruppen und Adventsrundbriefe unbrauchbar, wo er nur solange reüssieren kann, wie er Floskel bleibt und nicht Wirklichkeit wird. Will der Spruch jedoch Kunst sein, kann es ihm nur darum gehen, Wirklichkeit zu werden. Wo er Floskel bleibt, bleibt er Kitsch.

Darum ist die virtuose Umdeutung des Domin-Zitats notwendig – auch wenn es nicht meine Absicht ist, Schwäche und Stärke, Verzweiflung und Virtuosität gegeneinander auszuspielen. Beides sind elementare Erfahrungen im menschlichen Leben. Mit Betonung auf: beides. Wo nur eines ist, lauert Kitsch oder Kommerz. Wer sich nur im Tal der Tränen suhlt, ohne danach zu streben, stark und glücklich zu werden, führt eine ebenso reduzierte Existenz wie jemand, der sich ständig in virtuoser Kraftmeierer ergeht, ohne anzuerkennen, dass er nicht alles kann und immer wieder von den Umständen eingeschränkt wird.

Beide Deutungen des Zitats sind daher wichtig, richtig und nötig. Beide reden – und das hebt ihren Gegensatz auf höherer Ebene wieder auf – von Transzendierung. Denn normalerweise trägt Luft eben nicht. Egal ob man sie virtuos oder verzweifelt ansieht. Wenn Luft trägt, so hat man einen Überschlag vollzogen – ob man nun schon damit rechnet oder ob es wie ein Wunder vom Himmel fällt.

Verloren hat nur der, der nicht – weder bangend noch vertrauend – daran glaubt, dass der Überschlag – irgendwie, irgendwann – passieren könnte. Der den Satz lieber ins Poesiealbum schreibt als ihn zu erfahren. Dieser Mensch wird nie erleben, wie es sich anfühlt, freihändig Fahrrad zu fahren – auch wenn er es tausendmal tut.


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