Das Dilemma der CDU

Die CDU/CSU steht gerade in einem furchtbaren Dilemma, das am besten durch zwei Personen verkörpert wird: Angela Merkel und Horst Seehofer.
Die Situation: Die Bevölkerung hat ihre Begeisterung über die Flüchtlingspolitik deutlich abgekühlt. Eine direkte Konsequenz sind die Wahl- und Umfrageerfolge der rechtspopulistischen AfD, die einen Raum besetzt, den früher die Union allein für sich beanspruchte ("rechts von uns ist nur die Wand"). Eine breite Riege von Führungspersonal (überwiegend alt, provinziell und männlich, wie stets) stand Merkels Willkommens-Kurs von 2015 ohnehin nur lauwarm gegenüber. Sie sehen in ihrer Flüchtlingspolitik den Hauptgrund für die aktuelle Schwäche der Union und die Stärke der AfD; der viel beschworene "Markenkern" gehe verloren. Auf der anderen Seite stehen Merkel und ihre Loyalisten, die ihren Kurs seit 2005, die CDU zu modernisieren und breit in der gesellschaftlichen Mitte zu etablieren, direkt mit der Flüchtlingspolitik verbunden haben.
Das Dilemma: Soll die CDU ihren früheren Platz als (demokratische) Kraft rechts von der Mitte zurückerobern, quasi über Merkels politische Leiche, oder sollen sie die Verluste durch die AfD hinnehmen und mit Merkel weitermachen, komme, was wolle? Egal wohin sich die Union bewegt: sie verliert.
Um die Situation für die CDU besser einschätzen zu können ist es instruktiv, eine Parallele zu zeichnen. Diese Parallele ist die SPD, deren elektorales Schicksal jedem CDU-Funktionär nur allzu deutlich vor Augen steht. Keiner dieser Politiker, die sich beileibe nicht am Ende ihrer Karriere sehen, ist bereit, dieselbe dafür aufzugeben dass Angela Merkels Flüchtlingspolitik noch in 15 Jahren im Spiegel als "schmerzhaft, aber richtig und notwendig" gefeiert wird, wie es Schröder und seinen Gefolgsleuten mit der Agenda2010 erging. Die SPD verlor den linken Flügel, den sie mit der Agenda-Politik praktisch aufgab, permanent. Ihr ehemaliger Kronprinz, Oskar Lafontaine, besiegelte dieses Schicksal. Zwar ist es unwahrscheinlich, dass Horst Seehofer bald in die AfD eintritt, aber bereits das alte Schreckgespenst einer Auflösung der CDU-CSU-Fraktionsgemeinschaft reicht ja schon aus, um diversen Konservativen Schauer über den Rücken zu jagen.
Die SPD befand sich in den späten 2000er Jahren in ungefähr derselben Lage wie jetzt die Union. Eine aufstrebende Protestpartei links der Mitte besetzte einen Raum, den sie aufgegeben hatte, die eigenen Anhänger fühlten sich mehr und mehr zurück- und alleingelassen und empfinden keine innere Verbundenheit zum politischen Kurs, selbst wenn sie ihn zähneknirschend mittragen. Der Beifall für den Kanzler und seine Politik ist von der politischen Konkurrenz lauter als aus den eigenen Reihen. Der Bundeskanzler fühlt sich darin bestätigt, schwingt sich zur Leitfigur der Republik auf, ohne die nichts mehr geht, und erlebt dabei gerade seinen eigenen Schwanengesang. Vor Schröder hatte Helmut Schmidt bereits dasselbe Schicksal erlitten; auch er pfiff auf den Widerstand der eigenen Leute und den Aufstieg einer neue Protestpartei und sonnte sich in der Zuneigung konservativer Leitartikler. Wenig später verlor er die Wahlen.
Die Gefahr für die Union, ein ähnliches Schicksal zu erleiden, ist real. Aktuell genießt Merkel noch immer weit höhere Zustimmungswerte als irgendjemand anderes im Land, stabil über 40%. Vorbei allerdings sind die Zeiten, als sie in einem TV-Duell ihren Kontrahenten mit einem simplen "Sie kennen mich"-Appell von der Bühne wischen konnte. Denn so wie Schröder vom "Kanzler der Gewerkschaften" zum "Genosse der Bosse" wurde wandelte sich Merkel von der "Eisernen Raute" zu "Mutti Merkel" - und für die neue Rechte zur verhassten Landesverräterin. Hält der aktuelle Trend, wird die Union bei der Bundestagswahl 2017 ein Ziel von 30%+X anstreben müssen - und mit einem Sechs-Parteien-Parlament rechnen, in dem sie zum Regieren erneut auf die SPD oder sogar eine Dreierkoalition angewiesen ist.
Das allerdings ist noch kein Dilemma, denn wenn man Horst Seehofer Glauben schenkt, muss Merkel sich nur rhetorisch auf eine Flüchtlingsobergrenze von 200.000 pro Jahr festlegen, und alles wird wieder gut. Dass das Unsinn ist, weiß wahrscheinlich sogar Seehofer, der hier versucht, den Preis für seine Unterstützung möglichst hoch zu verkaufen. Das Dilemma besteht viel mehr darin, dass Merkel wie Schröder weder vor noch zurück kann. Weitere Schritte in die bisherige Richtung zerrissen die Partei - man denke nur an die Rente mit 67 oder den schnell beerdigten Versuch Münteferings, eine "Agenda 2020" auszurufen - und verbieten sich damit von selbst. Ein Schritt zurück aber vergrault diejenigen, die diese Schritte bisher loyal mitgegangen sind und bestätigt die eigenen Gegner. Das gesamte Merkellager wäre damit erledigt (genauso wie Schröder damals erledigt gewesen wäre), aber für die Wähler gibt es kaum Grund zurückzuwechseln. Schließlich wählt man ja bereits die Partei, die bei der nun quasi höchstamtlich bestätigt richtigen Politik die Kernkompetenz innehat. Genausowenig wie die SPD der LINKEn das Rechthaben zugestehen konnte, genausowenig kann die CDU das im Falle der AfD machen. Die CSU hat da die Sonderposition, mit dem "mir san mir"-Ansatz der Bayern solche abrupten Richtungswechsel einfach als Zeichen der eigenen Unabhängigkeit verkaufen zu können.
Der CDU bleiben damit eigentlich nur zwei Optionen: mit Merkel erneut einen Wahlkampf zum beherzten "Weiter so!", oder ohne Merkel einen Rückschritt von der bisherigen Politik in der Hoffnung, dass der Wähler das gouttiert und dass das Chaos, das durch das politische Vakuum im Zuge des Abtritts einer kompletten Regierungskoalition entsteht (denn mit so einer Wandlung zerschießt sich die CDU auch die Regierungsoptionen mit SPD und Grünen) bis zum Wahlkampf verwunden werden kann. Das allerdings ist eine ausgesprochen unsichere Option, die vermutlich sogar Horst Seehofer schlaflose Nächte bereitet.


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