Das Digitale als Treibstoff des Analogen

Momentan probe ich für unser Festival Schwelbrand Overkill wieder mein Klavierstück „Teufelsthriller“ mit dem Pianisten Daniel Seroussi. Dabei habe ich einen interessanten Effekt beobachtet.

Daniel Seroussi hat das Stück bisher dreimal im Konzert gespielt. Er hat dabei versucht, sich meinem ästhetischen Ideal „Schneller Spielen als möglich“ immer weiter anzunähern. Und seine Interpretation ist tatsächlich kontinuierlich besser geworden. Jetzt aber, vor der vierten Aufführung, gibt es plötzlich einen riesigen qualitativen Sprung. Warum?

Im letzten Dezember haben wir eine Studioaufnahme des Stücks gemacht (s. rechts). Dabei haben wir die fünfminütige Komposition aus ca. 40 Takes zusammengesetzt. Für jeden der 40 Takes hatte Daniel Seroussi optimale Startvoraussetzungen, die bei einer Komplettaufführung so nicht gegeben wären: Er war ausgeruht. Er konnte mit voller Kraft spielen. Er konnte sich geistig auf die spezifischen Probleme der aktuellen Sequenz konzentrieren. Er konnte mehrere Versuche spielen, solange, bis wir mit dem Ergebnis zufrieden waren.

So konnten wir aus den 40 Takes (unter Hinzugabe einiger audiotechnischer Schönheitskorrekturen) einen Durchlauf simulieren, der um Längen besser war, als das Stück jemals live geklungen hatte.

Nun kommt aber das interessante: die virtuelle, digital konstruierte Interpretation beginnt die analoge Interpretation zu verändern! Die physisch unmögliche Interpretation, die auf dem Video sicht- und hörbar wird, übt einen so starken physischen Impact auf den Zuhörer aus, dass er unweigerlich denkt: das, was ich hier sehe, muss doch auch in echt gehen!

Und der Pianist, der sich selbst auf dem Bildschirm so überschnell, übervirtuos, mit einem schier unendlichen Kraftreservoir spielen sieht, beginnt unwillkürlich, sein tatsächliches Spiel dem virtuellen anzugleichen und eben jene Unmöglichkeiten möglich werden zu lassen, denen nachzuspüren zentrales Anliegen meiner Komposition ist.

War früher die Phantasie die Haupttriebfeder für künstlerische und technische Neuerungen (der Traum vom Fliegen, der Traum vom Gesamtkunstwerk…), so gesellt sich ihr heute die Computersimulation hinzu. Für Komponisten unserer Generation ist es längst selbstverständlich, die Midi-Simulationen von Notationsprogrammen nicht nur zur Korrektur von bereits weitgediehenen Partituren zu benutzen, sondern auch als Inspirationsquelle – im Trial-&-Error-Verfahren – zur Findung neuer musikalischer Strukturen. Algorithmische Kompositionsverfahren sind sowieso nur zu diesem Zweck erfunden worden. Das, was der Computer ausspuckt, wird zum Sehnsuchtsort analogen Musikmachens. Das, was der Computer ausspuckt, kann die Grenzen dessen, was Menschen zu spielen und zu denken imstande sind, hinausschieben.

Wenn Simulation und Phantasie zusammenspielen, können sie schier unglaubliches vollbringen. Die Simulation per se als unkünstlerisch und uninspiriert zu brandmarken, ist ebenso kleingeistig, wie die Phantasie per se für altmodisch und überholt zu halten. Computergefrickel ohne Phantasie und phantastische Luftschlösser ohne praktischen Zufahrtsstraße sind ähnlich langweilig. Erst aus der Verbindung disparater Triebkräfte entsteht neue und aufregende Kunst.


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