Das beste aller möglichen Unglücke

Es gab eine Zeit, da rätselte man über den seltsamen Humor eines allmächtigen und liebenden Gottes, der von seiner Macht aber keinen Gebrauch machen wollte, damit das menschliche Leid duldete - besonders rätselhaft erschien den Zeitgenossen dabei das große Erdbeben von Lissabon, welches 1755 unfassbaren Notstand erzeugte. Wie konnte Gott so eine Katastrophe zulassen, fragten sich Europas schlaue Geister. Dieses Zweifeln, Rätseln, Hinterfragen eines mächtigen Gottes nennt sich Theodizee, was soviel heißt wie Rechtfertigung Gottes - eine theologische Rubrik, die auch besonders bereitwillig von Philosophen abgegrast wurde, bei der sich eloquent und zungenfertig gefragt wurde, wie ein gnädiger Gott, ein Gott der Liebe, die Hölle auf Erden zulassen könne, obwohl er doch die Befehlsgewalt besäße, alles zu einem Besseren zu wenden.
Theodizee lebt bis heute fort - mit dem Unterschied, dass dieses Fach ganz unten angekommen ist. Anstelle von Erdbeben stehen heute nackte Frauenbrüste, Bierflaschen und Joints im Zentrum der Theodizee. Wie kann ein allmächtiger Gott, so fragen sich die Freunde transzendenter Erklärungsmuster, bloß Veranstaltungen wie die Loveparade zulassen? Freilich versteht es sich von selbst, dass heute kein Kant, kein Voltaire, kein Leibniz oder Lessing um Antworten bemüht sind - denn nicht nur die Theodizee selbst, als Disziplin liegt am Boden, auch die heutigen Antwortsuchenden kriechen am Boden, dümpeln im geistigen Bodensatz umher. Statt Kant, so könnte man es auch kürzer festhalten, tapst heute eine scharfzüngige Eva Herman über theologische Trampelpfade.

Auch Leibniz sorgte sich um einen Gott, der voyeuristisch zusieht wie die Menschen leiden, während er offensichtlich an potenter Machtfülle reich war - der Gelehrte wurde zum Fackelträger einer optimistischen, pragmatischen Auslegung der Problematik. In seinem Werk Essais de théodicée (Theodizee) brachte er zum Ausdruck, dass es immer noch schlimmer hätte kommen können, weswegen man sehr wohl behaupten könne, der Mensch lebte in der besten aller möglichen Welten - ein allzueinfaches, schlankweg anspruchsloses Erläuterungsmodell, welches später auch von Voltaire in seiner Schrift Candide ou l'optimisme (Candide oder der Optimismus) köstlich verrissen wurde. Rätselfreunde der göttlichen Motivation hatten offensichtlich häufig eine Neigung zur plumpen Beantwortung ihrer ohnehin sinnlosen Fragen.
Herman reiht sich da nur ein - unbegabter natürlich als jene Vordenker, zudem in holpriger, dafür aber galliger Sprache, generell aber wenig intellektuell erleuchtend. Ein frommes, frömmelndes Herz wirft sie allerdings in die Waagschale - etwas muß sie ja auszeichnen! Aber ihre Auslegung, dass dem schamlosen Treiben Sodoms und Gomorrhas nun von mächtiger Stelle ein Ende gesetzt wurde, ist nicht nur zynisch und nebenher ausgesprochen blöde: es ist auch konsequent. Die stumpfe, unbeholfene Deutung ist das sprichwörtliche Klappern, welches zum Geschäft gehört: und in der Geschichte der Theodizee klapperte man von jeher mit spöttischem Zynismus und weihevoller Gelehrtenmiene, die die Unwissenheit annehmlicher kleiden sollte. Anders konnte es auch nicht sein in einer Fachdisziplin, die dem Fischen in trüben Brackgewässern bei dickstem Nebel gleicht. In der besten aller möglichen Welten, so könnte Herman auch geschrieben haben, sind zwar Loveparades, blanke Titten und ordinärer Suff durchaus vorzufinden, aber hin und wieder wird ein solches Treiben auch bestraft - in einer schlechteren Welt, so hätte ihr Leibniz konziliant beigepflichtet, wären nackte Brüste und Trunkenheit noch viel ausgiebiger gestreut, würde das Lotterleben nie bestraft. Sie sehen das ganz richtig, hätte der olle Leibniz ihr geflüstert, das was geschehen ist, ist das beste aller möglichen Unglücke, liebe Eva! Mehr ist zuweilen nicht umsetzbar in dieser besten aller möglichen Welten - dass uns eine bessere Welt vorstellbar ist, dass wir sie uns denken können, heißt ja noch lange nicht, dass sie auch möglich wäre. All das ist die Logik des Trostes; der Trost derer, die im Optimismus resignieren möchten.
In der Theodizee zu waten hieß einst, sich der großen Problematiken des menschlichen Daseins anzunehmen. Die Antworten waren aber auch da stümperhaft, nicht beweisbar, kurz gesagt: theologisch halt - was heute in jener Rubrik des tiefergehenden Denkens betrieben wird, ist meist nur das Deuteln mit dem moralischen Zeigefinger - manchmal durchaus verständlich ob der unsittlichen Auswüchse. Wie kann Gott den Porno zulassen?, fragen sie sich heute. Weshalb erlaubt Gott es, dass sich jemand besinnungslos säuft?, beschäftigt das theologische Gemüt. Auf einen Nenner gebracht: Wie kann Gott eine so sittenlose Welt genehmigen? Der Mensch als Marionette transzendenter Planungsarbeiten! Das sind im Übrigen Fragen, wie sie ähnlich gestellt werden, wenn eine Katastrophe geschieht. Die Pappschilder oder Kondolenzbriefchen, mit denen trauernde Menschen nach Geschehen eines Unglücks die Straßen zupflastern, Schilder und Briefchen auf denen Warum nur? oder Wie konnte das geschehen? steht, sind nichts anderes als softes Theodizee, ein Theodizee der Straße sozusagen - das Wie kann Gott nur die Busenshow und den Drogenrausch zulassen? ist herberer Machart, beruht aber auf der gleichen religiösen Trostlosigkeit, sich mit unbeantwortbaren Fragen zu beschäftigen, die einen Gott zwar angingen, wenn es ihn gäbe, die aber nicht an jene gestellt werden, die es wirklich gibt - Menschen nämlich.
Alles in allem handelt es sich also um sinnlose Fragenstellerei, die keine befriedigende Antwort liefern kann - wer fragt, weshalb Gott nackte und berauschte Partymiezen zulassen kann, ist auf dem Holzweg; man sollte fragen, wie Menschen dazu kommen, sich derart lächerlich zu machen, welcher Bauart eine Gesellschaft sein muß, in der so ein ekelhaftes Verhalten gefördert und gern gesehen wird. Das Elend der Philosophie lag zuweilen darin begraben, zu lange falsche Fragen gestellt zu haben, zulange ein verlängerter Arm von Religion und Mystizismus, Humbug und Esoterik gewesen zu sein. Das Elend derer, die die Nachfolge jener Philosophen angetreten haben ist, dass sie aus ihrem moralintrunkenen Gram einen Verhaltenskodex für die Allgemeinheit schmieden wollen - mit einem zürnenden Gott, wenn nötig. Und es ist das Elend, noch immer dort von Gott zu salbadern, wo man eigentlich von den Menschen sprechen müsste. An so ein Elend gekettet fragt man letztlich nach einem blinden und tauben Gott, der nicht sieht, nicht hört und deswegen nicht eingreift - man fragt aber nicht, wer die Katastrophe angezettelt, und wie im Falle Duisburgs, wer Fluchtwege vergessen und ein zu enges Festgelände abgesegnet hat. Warum Azubis fragen, wenn man einen Meister befragen kann - warum mit Menschen hadern, wenn man einen Gott um Einsicht bitten kann? Eine Bitte, die nach Hermans Lesart auch erfüllt wurde - Gott bestrafte die Sünder, die Geltungssucht Duisburger Behörden war damit nur Erfüllungsgehilfe eines viel größeren Planes.
Jetzt fehlte nur noch ein Voltaire, der der Herman einen Candide widmet - aber nicht mal das hat ihre Frömmelei verdient. Leibniz hat nebenher noch andere Leistungen vollbracht, moderne Rechenmaschinen gehen indirekt auf sein Konto - wäre er bei der besten aller möglichen Welten verharrt, wäre dies seine einzige Arbeit geblieben, man hätte ihn schnell vergessen. Nun ist die Frage, was Herman sonst noch zu bieten hat, außer jenem unglücklichen Ausspruch, wonach vielleicht "andere Mächte mit eingegriffen [hätten], um dem schamlosen Treiben endlich ein Ende zu setzen" - und da sieht es finster aus mit ihrer Unsterblichkeit...

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