Rixdorf. Das liegt im Berliner Stadtteil Neukölln. Rixdorf, so glauben die Bewohner nahe des Körner-Parks, sei etwas besser als Neukölln, das vor allem wegen der Drogenkriminalität, der Gewalt und einer Geschichte nach der anderen über das angebliche Scheitern der multikulturellen Gesellschaft berühmt geworden ist.
Samstagnachmittag, 15:30 Uhr. Auf einem der Plätze der Stadt ist ein deutsch-türkischer Poesie-Event angesagt, doch wir sind eine Stunde zu früh dran.
Wir sehen türkische, albanische, arabische Kinder und eine Handvoll Erwachsener, von der jungen Frau bis zum älteren Mann. Alle tragen orange Plastikwesten, wie man sie von den Müllmännern kennt. Nichts gegen Müllmänner, wohlgemerkt. Die Kinder fegen mit eigens angeschafften und nicht zur Weiterverwendung eingeplanten Besen Laub und Staub und packen alles in Plastiksäcke (die Besen nimmt hinterher mit, wer welche gebrauchen kann). Müll ist wenig zu finden. Macht nichts. Die Symbolik zählt. Der ältere Mann findet die Aktion toll (auf die Idee, es könnte sich um Kinderarbeit handeln, die noch dazu der Stadt Berlin die Möglichkeit schafft, Arbeitsplätze einzusparen oder zumindest keine neuen zu schaffen, kommt er nicht), ist nur entsetzt, weil die Kinder fragen, was sie denn für ihre Arbeit bekommen. Er will den Kindern den rechten Weg weisen, verkündet ihnen klug, dass ein sauberer Platz der Lohn ihrer Arbeit sein werde und ist schon wieder entsetzt, als die Kleinen das gar nicht lustig finden. Am Ende bekommen sie, wie vom Bezirksamt vorgesehen, billige Spielzeuggeschenke. Geld darf es ja nicht geben für Kinderarbeit.
Wir haben Durst und gehen in die Eckkneipe. Wir haben ja noch immer 45 Minuten Zeit bis zum Poesie-Event. Die Kneipe wirbt mit Live-Fußball eines Bezahlsenders, aber es läuft auf DSF die Frauen-WM in China. Von den fünf Gästen an der Theke schaut keiner hin. Frauenfußball, damit haben sie in dieser Kneipe nichts am Hut. Zwei Frauen hinter dem Tresen, eine Gästin unter den Gästen davor, eine zweite in Tarnhose und grauem Sweatshirt kommt ein paar Minuten später hinzu. Sie macht die bis dahin offene Kneipentür zu, tut es ein zweites Mal, nachdem ein gehender Gast sie sträflicherweise wieder offen gelassen hat. Es scheint, als wolle sie nicht gesehen werden.
Bei geschlossener Tür ist die Kneipe noch düsterer. Nur Deutsche sind hier. Keine Ausländer. Die sind draußen auf der Straße, würden in dieses Millieu auch kaum passen. Hier stehen Biergläser, die ohne Bestellung nachgefüllt werden, Freitags und Samstags ab 20 Uhr kostet der Pflaumenschnaps nur 1,20. Vermutlich ist dann die Abfüllgrenze der kaum miteinander redenden Gäste schneller erreicht, die Wirtsleute können früher Feierabend machen. Nach zehn Bier und zehn Schnaps bleibt die Einsamkeit im Glas, ist für diesen Abend nicht mehr wichtig. Vielleicht werden es auch 20 Bier, schließlich haben die Gäste hier ja schon am frühen Nachmittag angefangen, am Vergessen zu arbeiten.
Ein alter Mann kommt herein. Er fragt, ob er sich zu uns an den Tisch setzen darf. Er wirkt etwas heruntergekommen, elendig alleine, Mitleid erregend. Er darf sich setzen. Er bestellt ein Bier und holt einen Teller aus einer Plastiktüre. Auf den schüttet er aus der selben Tüte Kekse und Chips. Vielleicht war es bei ihm zuhause früher so ähnlich, wenn Fußball im Fernsehen lief. Damals, als seine Frau noch lebte. Er fordert uns freundlich auf, doch zuzugreifen.
Freundlich sind sie alle zu uns, die einsamen Menschen in dieser Kneipe. Ich suche die Toilette, eine Gästin weist mir den Weg. Als ich dann an der Theke die beiden Apfelsaftschorlen für meine Frau und mich bezahle, wird nett gelächelt. Zu sagen haben wir uns nichts. Wir kommen aus unterschiedlichen Welten und die Gäste sind auch schon viel zu angetrunken für ein Gespräch, das irgendeinen Sinn hätte. Aber Freundlichkeit ist schon viel mehr, als man in Berlin als selbstverständlich erwarten darf.
Der Poesie-Event wird tatsächlich ein voller Erfolg. Deutsche und Türken beiderlei Geschlechts lesen vor immer mehr stehen bleibenden und sich auf bereit gestellte Stühle und Bänke setzenden und immer wieder applaudierenden Menschen beider Kulturen eigene Gedichte und Gedichte anderer. Wann kommen schon mal etwa 30 Menschen zu einer Dichterlesung. Noch dazu, wenn es “nur” Gedichte zu hören gibt. Auch wenn die Hälfte der Anwesenden die auf türkisch vorgetragene Poesie nicht verstehen, nur den Klang der Worte wahrnehmen, ist die Atmosphäre fröhlich. So fröhlich, dass am Ende zwei türkische Jungen noch überredet werden können, ans Mikro zu kommen. Sie legen einen für ihr Alter passablen Rap hin, ernten viel Beifall. Auch weil man sich selbst für diesen Erfolg applaudieren möchte.
Nach anderthalb Stunden ist der Event vorbei. Alle sind zufrieden – in Rixdorf. Ein paar Kulturaktivisten gehen noch in ein Restaurant, das “Villa Rixdorf” heißt. Ich kann nicht fragen, ob man es hier weiß, noch nicht einmal, ob die Menschen es wissen, mit denen wir hierher gekommen sind. Denn zu diesem Zeitpunkt weiß ich es selbst noch nicht, habe es erst am Sonntag im Internet recherchiert:
Rixdorf, anno 1737 eine Ansiedlung aus Böhmen geflüchteter Protestanten, existiert seit 1912 nicht mehr. Wikipedia vermerkt dazu:
Die Änderung von Rixdorf zu Neukölln erfolgte im Jahre 1912 und wurde von den Behörden deshalb beschlossen, weil es um das Image des Ortes nicht zum Besten bestellt war. Rixdorf galt schon zu jener Zeit als Hochburg von Kriminalität und „schlechten Sitten“.
Da sage noch jemand, dass die Geschichte uns nicht einholen kann…