Geschwister bleiben Geschwister, auch wenn sie längst erwachsen sind. Man kommt zusammen als reife, lebenserfahrene Menschen, denen es nicht im Traum in den Sinn käme, einander als „blöde Kuh“ und „Stinkfuss“ zu beschimpfen. Man lacht zusammen über die unsäglichen Kämpfe, die man sich damals geliefert hat, man bewundert offen, worauf man früher neidisch war. Man geniesst es, mit Menschen zusammen zu sein, die einen schon kannten, bevor man war, was man heute ist.
Doch dann ein falsches Wort zum falschen Zeitpunkt und plötzlich mutiert die eine wieder zur Heulsuse, der andere zum Besserwisser, die Dritte zur Vermittlerin. Unvermittelt findet man sich in der alten Rolle wieder und man staunt, dass in den netten Erwachsenen Menschen, die man um nichts in der Welt missen möchte, noch immer ein kleiner Überrest von der blöden Kuh, vom Stinkfuss steckt. Für einen kurzen Moment spielt man wieder das gleiche Spiel wie vor Jahren, zuweilen steht man gar in Versuchung, zu testen, ob der rote Knopf von damals noch immer funktioniert, ob man es noch immer fertig bringt, den anderen mit einem kleinen, fiesen Trick zum Explodieren zu bringen.
Natürlich drückt man den roten Knopf nicht, auch wenn man ahnt, dass er noch immer am gleichen Ort sitzt. Man ist ja inzwischen erwachsen geworden und weiss, dass solche Kinderspiele sich leicht zu grösseren Konflikten auswachsen können, die sich nicht mehr so leicht lösen lassen, weil inzwischen Partner, Kinder, Häuser, Autos… dazugekommen sind. Deshalb tut man das, was man bereits als Kind getan hatte, diesmal einfach bevor es zur Explosion kommt und nicht erst danach: Man schluckt seinen Ärger hinunter, besinnt sich darauf, dass man die Geschwister trotz all ihrer Macken liebt und versöhnt sich wieder. Und hier zeigt sich zum ersten Mal, dass man doch nicht mehr Kind ist. Denn man sagt nicht mehr: „Du hast zwar angefangen, aber ich bin nicht mehr sauer auf dich“, sondern „Ich bin noch immer das gleiche Schaf wie damals. Ich hoffe, du nimmst mir das nicht übel.“