Italienischer Klamauk oder politisch engagiert?
Dario Fós „Bezahlt wird nicht“ am Theater Osnabrück
Vollgepackt mit Einkaufstüten, die mit aus einem Supermarkt inmitten eines riesigen Tumults gestohlenen Waren gefüllt sind, stürmt zur Eröffnung des Stücks die Schauspielerin Nicole Averkamp als Antonia auf die – nur mit einer Straßenlampe auf Rädern ausgestattete – Bühne. Das Bühnenbild, das das Wohnzimmer von Antonia und ihrem Mann Giovanni darstellt, entsteht, ganz in der Tradition des Improvisationstheaters, erst im Laufe des Stücks.
Natürlich handelt es sich bei der Osnabrücker Inszenierung nicht um Improvisationstheater. Dennoch gelingt es dem Ensemble, eine dem vergleichbare Atmosphäre herzustellen: Wird eine Requisite oder ein Stück des Bühnenbilds gebraucht, so holt der jeweilige Darsteller – oder ist es die Figur? – es aus dem Bühnenhintergrund ans Licht. Aber nicht nur an diesen Stellen wird die strikte Trennung zwischen dem Darsteller und seiner Rolle, zwischen der Darstellung und dem Dargestellten thematisiert und aufgeweicht: Wenn Dominik Lindhorst, der in seinen vier verschiedenen Rollen übrigens sein großes Talent unter Beweis stellt, erst als Polizist, dann als Carabiniere, als Leichenbestatter und als Giovannis Vater auftritt, halten die Figuren jedes Mal inne und wundern sich ob der großen Ähnlichkeit zwischen diesen Figuren. Diese implizite Thematisierung des scheinbaren Schauspielermangels (der hier natürlich gewollt ist) regt zum Lachen an. Das Lachen erwächst aber nicht aus einem einfachen Witz, sondern aus der punktuellen Auflösung der theatralen Mimesis, aus der Thematisierung eines Fakts, den der Zuschauer ansonsten einfach hingenommen und eben als Schauspielermangel interpretiert hätte.
Aus diesen Hinweisen auf das Verhältnis zwischen Darstellung und Dargestelltem wird am Ende eine echte Transgression: Giovannis (Oliver Meskendahl) pathetische Abschlussrede, die auf einen Aufruf zur Revolution hinausläuft, wird unterbrochen und geht in eine Art Auktion über, in der das in der Vorstellung verwendete Gemüse verkauft wird, um das so erwirtschaftete Geld für einen guten Zweck – in diesem Fall die Erdbebenopfer in Haiti – zu spenden. Der Übergang selbst verläuft recht abrupt: So proklamieren die Figuren, dass Worte allein nichts bewirken und dass lieber Taten folgen sollen, um Menschen zu helfen, die sich „nichts zu essen kaufen können“. Dies aus einer Situation heraus, in der die Figuren, die zuvor wegen ihrer eigenen finanziellen Not einen Supermarkt ausgeraubt haben, sich aufgrund der anstürmenden Polizei in höchster Bedrängnis befinden, wirkt unecht und gekünstelt. Dennoch ist die hier thematisierte Problematik ernst zu nehmen: Ein politisch engagiertes Stück, wie „Sotto paga! Non si paga!“ von Dario Fó, das in seinen Anfangszeiten in Fabrikhallen vor der von den thematisierten Missständen betroffenen Bevölkerungsgruppe aufgeführt wurde, bringt Verantwortung mit sich. Was kann ein solches Stück, aufgeführt in einem regulären Theater vor bürgerlichem bis gutbürgerlichem Publikum, noch bewirken? Findet die revolutionäre Energie, die durch die ganze Handlung aufgebaut wird und in Giovannis sehr pathetischer Abschlussrede ihren Höhepunkt findet, noch Echo und Nachklang in einem solchen Publikum? Bewirkt sie etwas? Das Osnabrücker Ensemble entschied diese Frage wohl mit einem Nein und kanalisiert vielleicht deshalb die entstandene Energie in einem direkt auf die Vorstellung folgenden Akt, der sich zwar einerseits gut an die temporeiche Darstellung anschließt, da beinah so etwas wie ein Flair von italienischem Markt aufkommt. Andererseits jedoch wird hier die Brechung der Fiktion auf eine so brachiale Weise umgesetzt, dass der Zuschauer nur perplex reagieren kann. So wendet Friedrich Witte, der den Mann von Antonias Freundin spielt, sich plötzlich dem Publikum zu und ruft es zur Teilnahme, zur Spende auf. Aus dem im Stück dargestellten Kampf gegen die vorherrschende Ordnung, die zur Benachteiligung bestimmter Bevölkerungsgruppen führt, wird ein in diese Ordnung integrierter Akt, der zwar die Intention hat, soziale Verbesserungen herbei zu führen, aber an die im Stück geforderte Revolution bei weitem nicht heran reicht. Aufgebrochen werden hier nur die Formen des Theaters, indem das ansonsten passive Publikum zur Aktion aufgefordert wird.
Der Konflikt zwischen Antonia und ihrem Mann Giovanni, der den Verlauf des Stückes kennzeichnet, wird hier also, in letzter Instanz, zu Gunsten der Grundeinstellung Giovannis entschieden, obwohl der Verlauf des Stückes durch die ‘Bekehrung’ Giovannis und seine den Höhepunkt markierende Abschlussrede eine andere Richtung vorgibt. Während Antonia durch ihre Teilnahme an der Kaufhausaktion ihre revolutionäre Einstellung beweist, beharrt Giovanni zunächst auf einer reformistischen Position. Gesetz ist Gesetz, so Giovannis Credo, und dagegen darf man nicht verstoßen, egal, wie viel Unrecht man erfährt. In der Tat lässt er auch vieles über sich ergehen: Hunde- und Vogelfutter zum Abendessen, Hausdurchsuchungen durch den Polizisten, Beleidigungen und Misstrauen des Carabiniere. Erst als er von Luigi (Friedrich Witte) erfährt, dass beide mit höchster Wahrscheinlichkeit bald ihren Job verlieren werden, wird es ihm zu viel. Musste Antonia bis dahin ihren Raub vor ihm verbergen, so agiert Giovanni nun wie sie: Er und Luigi nehmen Mehlsäcke mit, die bei einem Unfall von einem Lastwagen gefallen sind. Oliver Meskendahl inszeniert diesen Umschwung Giovannis auf grandiose Weise: Durch Mimik und Gestik wird die Zerrissenheit der Figur deutlich, die sich dann durch den Wechsel vom Extrem der absoluten Gesetzestreue zum Extrem der Illegalität und Revolution auflöst. Das, was er vorher bedingungslos verurteilte, betreibt Giovanni nun selbst und seine durch die Absolutheit seiner Entscheidung übertünchten Gewissensbisse und Ängste sind ihm deutlich anzusehen.
Extremitäten bilden auch insgesamt ein Charakteristikum des Stückes. Wie für die italienische Komödie typisch, wächst eine kleine Ausrede sich zu einem surrealen Verwechslungsspiel aus. So mancher Zuschauer, der den italienischen Humor nicht gewöhnt ist, mag sich von den höchst unrealistischen und unglaubwürdigen Entwicklungen befremdet fühlen. Wenn beispielsweise der Carabiniere bei einem Stromausfall davon überzeugt werden kann, dass er erblindet sei oder wegen eines durch Luft aufgeblähten Bauches glaubt, schwanger zu sein, mag dem ein oder anderen das Lachen vergehen. Dennoch bleibt hier festzuhalten, dass es dem Osnabrücker Ensemble wunderbar gelungen ist, diesen italienischen Humor auf Deutsch in Szene zu setzen. Trotz des hohen Tempos der Inszenierung und trotz der beständig erregten Gemüter der Figuren gelingt es dem Ensemble auch, die Handlung zu strukturieren und kurze Ruhepausen zum Durchatmen einzubauen.
Alles in allem ist „Bezahlt wird nicht!“ eine mehr als gelungene Inszenierung, nicht zuletzt wegen der hervorragenden Leistung der Darsteller.