Dann kam der Zug

Posted on December 22, 2013

Donnerstag, 19.12.2013, 7:34 Uhr. Ich saß gerade im Auto und freute mich auf einen angenehm dampfenden Becher Automatenkaffee als der Anruf kam. Ein kurzer Blick auf den Display und mir wurde irgendwie unangenehm. Mein bester Kumpel…vielleicht sollte ich sogar das erste mal seit Jahren den Begriff Freund anwenden…versuchte mich zu erreichen und ich ahnte, irgendetwas läuft schief. Er würde um diese Uhrzeit nicht anrufen wenn nicht etwas geschehen wäre doch was danach kam, verwüstete meinen Verstand.

-Mein kleiner Bruder hat sich umgebracht- sagte er durch die Tränen und es wurde still. Grausam still.

Die Großstadt ist um eine traurige Geschichte reicher. Die alten Mauern werden den verlorenen Seelen nachts eine Geschichte von einem 20-jährigen Jungen zuflüstern, der sich neue, schicke Klamotten kauft, Geschenke für Familie besorgt, sein Mädchen anruft und dann nachts…dann kam der Zug.

Als ich den Kleinen vor zwei Wochen auf einer Feier sah, war er ganz der alte. Gut aussehend, extrem sportlich, scheinbar glücklich. Die Augen suchten den Blickkontakt, das Gesicht frei von schmerzlichen Verzerrungen, niemand ahnte, dass er bereits den Countdown zum Abgang eingeleitet hat. Ich mochte ihn sehr. Ein kleiner Bruder eines großartigen Mannes voller Ehre und Prinzipien, der stets versucht hat, die richtigen Werte in das junge, brüderliche Herz einzupflanzen. Mit Erfolg. Der kleine nahm keine Drogen, hatte klar definierte Ziele und genoss einen ziemlich hohen Sympathiewert aus dem ein sehr großer Bekanntenkreis resultierte. Er war beliebt. Doch offenbar war er auch ein guter Schauspieler. Niemand war in der Lage hinter die pastellfarbene Fassade aus Hollywood-Lächeln und Freude zu blicken um den Trümmerhaufen in seiner Seele zu erkennen. Wenn er geweint hat, dann in der Einsamkeit. Seine Hilferufe hörten wahrscheinlich nur die leeren Straßen. Es regnete an dem Abend als er den Bahnsteig entlang ging bis zu der Stelle an der er plötzlich am Scheideweg stand. Links oder rechts? Leben oder Tod? Was danach folgte, war nur die Dunkelheit.

Ich hoffe, der Gott wird ihn dafür in den Arsch treten. Dafür, dass er bereits im 20 Level aus dem Spiel ausgestiegen ist und auch für das unvergessliche „Geschenk“, das er seiner Familie unterm Weihnachtsbaum gelegt hat! Das, über seine Hinterbliebenen geworfenes Leichentuch wird sie noch lange daran hindern, das Licht des Lebens richtig zu genießen! In meinen Gedanken hatte ich ihn dafür grün und blau verprügelt. Und die Frage nach dem Warum? Niemand kann etwas sagen und ich selbst hüte mich davor, Vermutungen anzustellen. Der, der die Antwort kennt, wird nie mehr reden. Er tat es nicht, als er noch Möglichkeiten hatte das zu tun und sein letzter Schrei wurde irgendwo auf diesem verfluchten Gleis brutal für immer unterbrochen. Der Kreis schließt sich und das Geheimnis wird höchstwahrscheinlich für immer dort verschwinden wo der Kleine demnächst geht…viel zu früh unter eine dicke Schicht feuchter Erde!

Am Abend des verfluchten Donnerstags sammelte ich meinen ganzen Mut zusammen und wagte mich auf den schweren Weg um den Kollegen zu besuchen. Ich nahm ihn in die Arme und hatte plötzlich den Eindruck ein lebloses Mannequin zu umarmen, das jeder Zeit drohte auseinander zu brechen. Er heulte und ich schwieg, denn was in aller Welt sollte ich ihm sagen? Sollte ich etwa zu einem der schwachen Sprüchen greifen wie „alles wird gut“ oder „Zeit heilt alle Wundern“? Nein, es wird nie mehr gut, vielleicht besser aber das war es auch schon und ich verwette meinen Arsch, dass die Wunde nie mehr heilt sondern sein Leben lang schmerzhaft eitern wird!

Mein Verstand gleicht einem Schrottplatz. Die Gedanken passen nicht zueinander als wären sie Teile eines schlampig ausgeschnittenes Billig-Puzzles doch das Leben wird weiter gehen. Ich bin um ein Erlebnis reicher geworden…jeder von uns schleppt eine mächtige Bombe mit sich herum, die im Falle des Falles nicht nur uns selbst in Stücke zerfetzt sondern auch unser Umfeld in Schutt und Asche legt. Die Kunst besteht darin, nicht zu nah mit dem Feuer an die Zündschnur zu kommen!

Category: Leben, Menschen Tags: Blog

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