1999 veröffentlichte der Schweizer Autor und Gymnasiallehrer Daniel Saladin (*1963) seinen ersten und bisher einzigen Roman “Getötet wird keiner”. Er handelt von einer Lehrerin, die “Opfer selbstgerechter Hüter von Recht und Ordnung” wird. Auch sein neues Buch handelt davon. Der Unterschied: es ist seine eigene Lebensgeschichte. “Aktion S.” ist eine wichtige, wenn auch sehr zermürbende Anklage an die Schweizer Justiz, geschrieben mit der nachvollziehbaren Wut des zu Unrecht Gejagten.
Titel: Aktion S. Eine Hetzjagd nimmt ihren Lauf
Autor: Daniel Saladin
Verlag: Rotpunktverlag
ISBN: 978-3-85869-583-3
Umfang: 288 Seiten, Klappenbroschur
I. Der Fall: Daniel Saladin, Deutschlehrer an einem Gymnasium in der Stadt Zürich, wird im Juli 2009 mit einem Hausdurchsungsbefehl überrascht und verhaftet. Grund des “Überfalls” laut polizeilichen Papieren: “Pornografie etc.” Die Mutter einer Schülerin hat ihn angezeigt: sein Unterricht sei zu sexualisiert, er lese mit seiner Klasse (14-15jährige Schüler und Schülerinnen) pornografisches Material. Dabei handelte es sich jedoch um literarische Werke von hohem Rang, etwa Frank Wedekinds “Frühlings Erwachen” oder Unica Zürns “Dunkler Frühling”, die die Polizei von Vornherein als einer Anzeige nicht würdig hätte abtun müssen.
Zu Saladins Unglück findet die Polizei in seiner Wohnung einige Aktfotografien und auf seinem PC (gelöschte) Dateien mit Fotografien entkleideter Minderjähriger: es handelt sich um Bilder, etwa von Fotograf David Hamilton, die Saladin einmal für ein privates künstlerisches Ausstellungsprojekt hatte verwenden wollen. Die Mühlen der Justiz beginnen zu mahlen: Saladin ist nun in Verdacht “so einer”, i.e. ein Pädophiler, zu sein. Eine traurige Odyssee, die den Angeklagten zwischenzeitlich in Depressionen verfallen lässt, beginnt.
Nach Jahren des juristischen Krieges, der zähen Verhandlungen und vor allem Wartezeiten, schliesslich ein Urteil. Saladin wird vom Hauptpunkt, dem Vermitteln pornografischer Inhalte in der Schule, freigesprochen. Im Nebenpunkt, dem Besitz von “Kinderpornografie”, wird ihm eine geringe bedingte Geldstrafe auferlegt.
II. Das Buch: Mit diesem Buch, einem “Pamphlet”, wie es die NZZ treffend nannte, rechnet er nun ab: vor allem mit der Staatsanwaltschaft, deren Fehler – sofern seine Schrift wirklich alles wahrheitsgetreu darstellt – mannigfaltig und kaum entschuldbar waren.
Saladins Beschreibung der Prozessakten, der genauen Details ist zermürbend, manchmal ermüdend, weil er alles minutiös abhandelt und jede kleine Unrechtmässigkeit, die ihm widerfahren, mit Kaskaden an Gegenargumenten untergräbt. Dazu kommt eine heftige Emotionalität, die selbstverständlich berechtigt ist, die aber bisweilen ins Weinerliche oder auch umgekehrt ins Blind-drauflos-Wütende (Nazi-, Taliban-, Hexenverfolgungs-Vergleiche) auszuarten pflegt.
Obwohl dies also mitunter anstrengende Lektüre ist, ist “Aktion S.” ein wichtiges Buch, das schwerwiegende Fragen aufwirft und das Vertrauen in den Rechtsstaat bisweilen ganz schön erschüttern kann. Wie etwa, um nur ein Beispiel aus den vielen Wort für Wort zitierten Gerichtsakten anzufügen, wie soll man einer Justiz Vertrauen schenken, die so argumentiert:
“Zudem fällt im Aussageverhalten des Beschuldigten betreffend die Bilder auf, dass die Schilderungen wesentlich knapper und monotoner sind als diejenigen betreffend Gestaltung seiner Schulstunden. Die Aussagen des Beschuldigten betreffend die Fotos erscheinen somit nicht glaubhaft.”
Nicht glaubhaft erscheint doch viel mehr eine juristische Argumentation, die “Monotonie” zum Kriterium der Glaubhaftigkeit erhebt.
Des Weiteren, abseits von dem schwerwiegenden Unmut gegenüber den Anklagenden, der hier laut wird, stellen sich aber auch Fragen der Kunst: Wo etwa ist die Grenze zwischen Kunst und Pornografie?
“Wer Frühlings Erwachen und Dunkler Frühling als Pornografie betrachtet, sieht in jedem Aktbild Pornografie”, sagt Saladin. “Auf Kunst wollen sich alle hinausreden”, sagt die Staatsanwältin. Wer hat hier – in ethisch-moralischer Hinsicht, nicht nach Gesetz – recht? Sind Bilder von David Hamilton kriminell?
Irgendwo fällt der Begriff Wernicke-Aphasie. Das ist eine Sprachstörung, die den Betroffenen die Zuordnung von Zeichen zu ihrer Bedeutung verunmöglicht. Von solch einer Störung heimgesucht erscheinen bisweilen auch die Methoden der Staatsanwaltschaft, die Stellen aus den besprochenen literarischen Werken isoliert, Prüfungen mit einer frei wählbaren, entfernt sexuell konnotierten Fragestellung als Beweis vorlegt, den Film “Am Anfang war das Feuer” (FSK 12) als pornografisch wertet - dies alles ohne weitere Ermittlungen, einzig basierend auf Aussagen der Mutter, die Saladin angezeigt hat. Die Zuordnung der Zeichen zu ihrer Bedeutung wird nicht einmal versucht.
Hat man dieses Buch gelesen, beginnt man nachzudenken über die Kunst, über Pornografie, über den Rechtsstaat, das System, dessen Willkür und Macht. Mag sein, dass der Fall Saladin ein Einzelfall bleiben wird, bei dem zu vieles falsch gemacht wurde – und doch: wir alle, die wir in der Schweiz wohnen, sind einem Rechtsstaat unterworfen, der zu solchen Verleumdungen fähig ist. Eine ernüchternde Feststellung, die nicht leicht zu verdauen ist. Doch genau deshalb war es wichtig, dass Saladin sein Buch geschrieben hat – dass es gelesen wird – und dass Veränderungen angeregt werden.
IV. Die abgesagte Lesung: Am 6. April hätte in der Kantonsschule Rämibühl die Buchvernissage mit Daniel Saladin stattfinden sollen. Diese wurde nun abgesagt. Begründung des Autors: “Die politischen Voraussetzungen für eine Lesung in Zürich sind leider nicht gegeben. Die bisherigen medialen Reaktionen fanden in den Regionalressorts statt, verfasst in einer Sprache, deren Wirklichkeit im Buch dekonstruiert wird. [...]” Des Weiteren schreibt Saladin in seinem Statement, er sei von den Medien enttäuscht, die “als Sprachrohr der im Text kritisierten Machtorgane” aufträten. Ich persönlich kann diese Begründung nicht wirklich nachvollziehen, zumal sich einige mediale Stimmen durchaus auf seine Seite geschlagen haben. Und mit einer gewissen Kritik hat er bei einem solchen Pamphlet rechnen müssen. Wie er nun diese Vernissage absagt – obschon es selbstverständlich sein gutes Recht ist – kratzt durchaus an der Glaubwürdigkeit des Autors… Fortsetzung folgt.