Corona-Pandemie: Der britische Umgang mit der Krise

Während weltweit Isolation verordnet und das öffentliche Leben weitgehend unterbunden wird, geht Großbritannien einen Sonderweg. Schulbetrieb und Geschäftsleben laufen großteils weiter wie bisher. Die wissenschaftliche Steuerungsgruppe der Corona-Krise rund um Chef-Berater Patrick Vallance nahm bisher Abstand von drastischen Beschränkungen. Vallance spricht sogar davon, dass die Verbreitung der Viren erwünscht ist, weil damit "eine gewisse Herdenimmunität" geschaffen wird. Dadurch würden viele Kinder und Erwachsene, die ohnedies nur leicht erkranken, immun. "Wir reduzieren damit das Übertragungsrisiko und schützen jene, die am stärksten gefährdet sind: ältere und chronisch kranke Menschen."

Corona-Pandemie: Der britische Umgang mit der Krise

Patrick Vallance erklärt via BBC das britische Vorgehen 


Diese Taktik steht in krassem Gegensatz zu dem, was derzeit in Rest-Europa abläuft: In Italien und Spanien werden landesweite Ausgangssperren überlegt, das öffentliche Leben ist weitgehend zum Erliegen gekommen. Deutschland schließt - wie viele andere europäische Länder - seine Grenzen. In Tirol sind mehrere Gemeinden isoliert worden, ganz Österreich hat die Schulen und die meisten Geschäfte geschlossen. Alle Europacup-Bewerbe im Fußball sind - wie alle anderen größeren Sport- und Kulturveranstaltungen – abgesagt. Wer nicht gerade im Supermarkt oder im Gesundheitswesen beschäftigt ist, so die allgemeinen Ratschläge, soll möglichst zu Hause bleiben und im Home-Office arbeiten. Spaziergänge - hieß es heute in den Früh-Nachrichten - sind zwar erlaubt, – aber nur kurz und in Gruppen von höchstens fünf Familienmitgliedern.
Soweit der Alltag derzeit in Europa im Zeiten der von der WHO deklarierten COVID-19-Pandemie.
Alles zum Schutz der Alten
Restriktionen und Quarantäne sind allgegenwärtig. Viele Berufsgruppen erleiden massive Einkommens-Verluste, das Wirtschaftssystem bricht ein. In den Seniorenheimen herrscht Besuchsverbot. Alleinerziehende Mütter und Väter haben enorme Schwierigkeiten, die Auflagen zu befolgen - zumal Großeltern als mögliche Aufsichtspersonen ausfallen. "Kinder dürfen keinesfalls zu den Großeltern gebracht werden", erklärte Österreichs Bundeskanzler Sebastian Kurz. "Denn das sind die Personen, die wir bestmöglich schützen wollen."
Allen Kritikern der extremen Maßnahmen tönt es entgegen: "Was ist wenn es Deine Eltern trifft?" – Wer sich nicht an die Vorgaben hält, gefährdet deren Leben, heißt es. – Das erklärte Ziel all dieser Notfall-Pläne ist es, den rasanten Anstieg der Todesfälle bei älteren Menschen - wie er derzeit in Italien beobachtet wird - zu begrenzen.
Großbritanniens Sonderweg
Es ist nun keineswegs so, dass Großbritannien gar nichts macht. Die Expertengruppe um den Chief Medical Officer Chris Whitty, seine Stellvertreterin Jenny Harries, den Chief Scientific Adviser Sir Patrick Vallance und die Verhaltenspsychologin Susan Michie haben ein ganzes Paket an Verhaltensregeln veröffentlicht:
  • Personen mit Grippe-ähnlichen Symptomen und Fieber über 37,8 Grad oder dauerhaftem Husten sollen sich von anderen Menschen fern halten und sieben Tage zu Hause bleiben
  • Ältere und chronisch Kranke Menschen sollen Situationen meiden, wo man mit vielen Menschen in Kontakt kommt
  • Immer wieder zwischendurch für 20 Sekunden die Hände mit Seife waschen
  • Beim Niesen oder Husten ein Taschentuch verwenden
  • Fassen Sie sich möglichst wenig mit den Händen ins Gesicht
Je nachdem, wie sich die Situation entwickelt, wird überlegt, dass ältere und chronisch Kranke möglichst zu Hause bleiben und dort versorgt werden. Der restlichen Bevölkerung werden aber möglichst wenige Restriktionen auferlegt. Sie sollen "Händewaschen und so weiter machen wie bisher", raten die Experten. Und, ja natürlich - wird auf Nachfrage geraten, kann man am Wochenende auch die lange geplante Familienfeier abhalten. "Bloß jene, die Schnupfen oder Husten haben, sollen sicherheitshalber zu Hause bleiben."
Der Mediziner Patrick Vallance, bis vor kurzem noch Forschungsdirektor beim Pharmakonzern GlaxoSmithKline und nun oberster wissenschaftlicher Berater der Regierung, geht nicht davon aus, dass es sinnvoll ist, die Übertragung der Viren durch drastischere Maßnahmen zu unterbinden. "Das funktioniert nicht perfekt und außerdem kann man dies den Menschen nur über eine kurze Zeit zumuten." Deshalb, so Vallance, komme es auf das Timing an. Am wichtigsten sei es, zu vermeiden, dass viele Menschen gleichzeitig krank werden. Und dafür reichten die bisherigen Regeln aus.
Damit werde die Epidemie zwar etwas länger dauern, doch die Ressourcen des Gesundheitssystems würden nicht überfordert. Außerdem werde der kommende Frühling das seine tun, um die Erkältungsviren zurück zu drängen.
"Den Sombrero flach drücken", übersetzte Premier Boris Johnson diese Taktik, den Ausschlag der Epidemiekurve zu drosseln, seinen Mitbürgern. Man werde in dieser Krise zwar "geliebte ältere Menschen vor der Zeit verlieren", sagte Johnson. Doch er vertraue darauf, dass sich der britische Weg als der nachhaltig bessere erweist.
Massive Kritik kam von allen Seiten. Rechtspopulist Nigel Farage warf ihm einen "Mangel an Führungsstärke" vor. Der ins Abseits gedrängte Ex-Gesundheitsminister Jeremy Hunt zeigte sich besorgt, dass Großveranstaltungen nicht abgesagt wurden. Und mehr als 200 Wissenschaftler unterzeichneten einen Aufruf, dem Beispiel Europas zu folgen und schärfere Maßnahmen zur Vermeidung einer weiteren Ausbreitung zu treffen.
"Es ist doch viel wahrscheinlicher, dass sich die Leute im eigenen Zimmer bei Familienmitgliedern anstecken als in einem großen Raum", konterte Vallance. Außerdem mache es einen enormen Unterschied, ob man sich - sozusagen im Vorbeigehen - eine Infektion mit einer geringen Virenlast einfängt - oder ob z.B. ein frisch Infizierter die ganze Nacht im Ehebett den Partner anhustet. Dass die "initiale Virenlast" eine beträchtliche Rolle spielt und für schwere Verläufe ursächlich sein kann, ist infektiologisches Basiswissen.
Warum ist die Lage in Italien so eskaliert?
Gegen Ende Februar gingen die Fallzahlen in Italien so massiv in die Höhe und hatten eine derartige Folge lebensgefährlicher Erkrankungen wie das davor nur beim Ursprung der COVID-19 Epidemie in der chinesischen Stadt Wuhan beobachtet worden war. Wie ist das zu erklären?
Rasch kamen Spekulationen auf, dass es sich beim Ausbruch um einen Direktimport aus China handelte. In Oberitalien gibt es mehr als 1000 Textilbetriebe, welche unter chinesischen Arbeitsbedingungen bei Stundenlöhnen von wenigen Euro und dem verkaufs-fördernden Etikett "Made in Italy" schnelle Mode – "pronto moda" – erzeugen. Meist werden diese Betriebe von Chinesen geführt, die im Auftrag großen Modeketten – oder für die Wochenmärkte – arbeiten. Rund 50.000 Arbeiter logieren unter meist miserablen Bedingungen in Massenquartieren. Zum Chinesischen Neujahrsfest, das am 25. Januar gefeiert wurde, gibt es alljährlich eine große Reisetätigkeit - und hier ist es durchaus möglich, dass größere Viren-Exporte nach Italien statt gefunden haben.
Das Magazin zack-zack.at erstellte eine Grafik, in der die Corona-Fälle mit dem Anteil der in der Provinz gemeldeten chinesischen Staatsbürger korreliert wurden. Die Übereinstimmung ist recht eindrucksvoll.

Corona-Pandemie: Der britische Umgang mit der Krise

Direktimport der Coronaviren aus China? (Quelle: zack-zack.at)

Tatsache ist, dass es in Italien niemals gelungen ist, den so genannten "Patient Null" zu finden. Es ist deshalb sehr wahrscheinlich, dass es zu einer mehrere Wochen unbemerkten Ausbreitung der Viren gekommen ist, die dann in einem plötzlichen Epidemie-Peak mündete. Gleichzeitig kamen Dutzende schwer Kranke Menschen in die Kliniken. Isolationsräume waren rasch überbelegt, Atemschutzmasken gingen aus. In der Folge steckten sich zahlreiche Mitarbeiter an. Die Krise bringt bis heute das italienische Gesundheitssystem an die Grenzen der Belastbarkeit. Allein gestern, am Sonntag, dem 15. März wurden 368 weitere Todesfälle gemeldet. Bereits heute mittag, rechnen die Experten, werde die Grenze von 2.000 Todesfällen überschritten.
Mit der enormen Durchseuchung in lokalen Zentren unterscheidet sich die Situation in Italien stark von den meisten Ländern Europas, wo sich die Fälle viel gleichmäßiger verteilen. Damit ist es leichter, die kranken Menschen zu identifizieren und diese zu isolieren.
Ein ähnlicher Unterschied zeigte sich auch am Beginn der Epidemie: In der Provinz Hubei mit dem Zentrum in der Stadt Wuhan lag die Sterblichkeit bei knapp 3%. Auch hier konnten sich die – damals ja noch unbekannten – Viren-Mutation ungehemmt verbreiten.
Außerhalb der Provinz Hubei hingegen bei nur noch 0,4 bis 0,6%. Und da auch hier die Dunkelziffer der Infizierten, aber nicht getesteten Menschen groß ist, wird das tatsächliche Sterberisiko noch deutlich geringer sein. Dasselbe gilt für Südkorea, jenes Land, das als erstes Fälle außerhalb Chinas meldete.
Sind die enormen Beschränkungen des öffentlichen Lebens gerechtfertigt
Wäre es also vernünftiger, dem bisherigen britischen Weg zu folgen und die Isolation auf die Kranken und auf die Risikogruppen zu beschränken? Auf Basis unseres Wissens über die biologischen Hintergründe spricht einiges dafür. 
Rationaler ist der britische Weg jedenfalls, als viele der Warnrufe, die man rundum von den diversen Experten hört. Beispielsweise die Aussage des Wiener Wissenschaftlers Josef Penninger, der generalisierend behauptet hatte, dass das Coronavirus "30 mal tödlicher" ist als Influenzaviren. Um diese Zahlen zu untermauern, muss man jedoch die höchsten Sterberaten aus China oder Italien zugrunde legen und die Dunkelziffer der vielen leicht verlaufenen, nicht getesteten Infektionen unter den Tisch fallen lassen.
Ebenso drastisch klingt eine Aussendung des "Complexity Science Hub" (CSH) an der Universität, das sich mit Modellrechnungen beschäftigt. Ohne die Einführung der drastischen Maßnahmen der Regierung hätten sich die Erkrankungszahlen in Österreich alle 2,27 Tage verdoppelt, verlautbart CSH-Vorstand Stefan Thurner. Damit wäre die "exponentielle Ausbreitung" der Infektionswelle noch rascher vorangeschritten als in Italien (Verdoppelungszeit 3,4 Tage). Dass die epidemiologische Situation sich – wie oben erwähnt – von jener in Italien massiv unterscheidet, wird dabei nicht berücksichtigt.
Rund herum überbieten sich Experten mit ähnlichen Aussagen und treiben damit die Politik vor sich her. Möglicherweise haben diese Wortmeldungen aber auch damit zu tun, dass es nun um die Verteilung von Fördergeldern für Impfstoffe, Medikamente und sonstige Expertisen geht.

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