Manchmal muss man gar nicht bis nach Narnia oder Mittelerde reisen, um in eine völlig fremde Welt einzutauchen. Es reicht eine kurze Fahrt an den Niederrhein, in das katholische Jungeninternat Collegium Gregorianum Kahlenbeck; und weit zurück in der Zeit muss man dabei auch nicht reisen, es reicht völlig aus, die Zeitmaschine auf die frühen achtziger Jahre einzustellen. Ist man dort angekommen, wird man schnell feststellen, dass einem in dieser Welt so rein gar nichts bekannt vorkommt. Mir ging es jedenfalls so.
In Kahlenbeck scheint die Zeit stillzustehen. Was draußen in der Welt passiert, was die Welt bewegt, bleibt draußen vor den Mauern – vor denen aus Stein und vor denen aus katholischer Überfrömmigkeit gleichermaßen. Den Problemen der Jungen wird nur mit Verboten und Regeln begegnet, tägliche Gottesdienste, Gebete und regelmäßiges Beichten soll sie zu guten Menschen erziehen. Wie es in den Jungen aussieht, interessiert da niemanden. Sexualität ist der Teufel – immer schön die Hände über die Bettdecke! Kann man so zu einem vollständigen Menschen heranreifen?
Einer, der so aufwächst, ist Carl Pacher, 15 und in einem tiefen Konflikt. Wie kann er gleichzeitig Gott und eine Frau lieben? Antworten bekommt er keine, also ist ab sofort learning by doing angesagt. Mal ist das Resultat zum Heulen, mal zum Lachen.
Christoph Peters Roman schwankt zwischen den Extremen hin und her. Mal ist die Situation im Internat unerträglich, eingeschnürt in ein Korsett aus religiösem Wahn, ohne Freiheit, ohne Möglichkeit der Selbstentfaltung; und dann ist es wieder so absurd, dass ich nur noch lachen kann. Weil die Vorstellungen, insbesondere in Bezug auf Sexualität, so zurückgeblieben und dadurch so fremd wie komisch sind. Weil diese Welt so anders ist als die, in die ich hineingeboren wurde, Anfang der achtziger Jahre.
Gerade dieser Einblick in eine mir fremde Welt hat Wir in Kahlenbeck für mich so interessant, so spannend, und auch so bewegend gemacht. Hier prallen die unterschiedlichsten Charaktere und Lebensvorstellungen aufeinander, und doch sollen sie alle aneinander angeglichen werden, zu frommen Menschen erzogen werden. Dass das nicht gelingen kann, ist es, was mir Genugtuung gibt. Dass die Jungen sich ihren eigenen Weg suchen. Auch wenn sie dabei mitunter gehörig auf die Nase fallen.
Vielleicht ist Kahlenbeck auch deshalb so spannend für mich, weil ich wohl nur einen kurzen Einblick in diese Welt haben durfte, weil ich nie dazugehören kann. Ich kann hier nur ein Besucher sein, der nach 500 Seiten wieder gehen muss, noch immer orientierungslos, fassungslos, verständnislos. Und mit einer Erkenntnis: In Narnia hätte ich mich besser zurechtgefunden.
Gebundene Ausgabe: 512 Seiten
Erschienen bei Luchterhand Literaturverlag
August 2012
ISBN: 978-3-630-87321-3