Christine And The Queens
„CHRIS“
(Because Music/Universal)
Schon klar, am Ende muß jeder selbst entscheiden, ob und wie sehr er sich darauf einlässt. Aber was kann es denn in Zeiten, wo man das Gefühl hat, von lauter Schrumpfhirnen umgeben zu sein, die nichts mehr und höher schätzen als das ewig gleiche „Weiter so!“, schöneres geben, als auf diese Art irritiert, verunsichert, vielleicht provoziert zu werden? Schon als die ersten Bilder der „neuen“ Héloïse Letissier im Netz auftauchten, fragte man sich gespannt, wie weit sie damit gehen, wie konsequent Christine (der neue Name Chris so kurz wie ihre Haare) dieses Spiel wohl treiben würde. Oder ist es am Ende gar kein Spiel? Ist diese Transformation ihr Ernst und nicht nur professionelles Medienspektakel? Nun, die Konsequenz jedenfalls manifestiert sich in der Weigerung zur endgültigen Entscheidung – keine Festlegung von ihr zu haben, wer und wie sie ist, zu wem sie sich hingezogen fühlt, wen sie liebt. Keine Qual der Wahl, sondern absolute Freiheit einzufordern und auch zu bekommen. Und mit der öffentlichen Wahrnehmung zu leben – im Spiegel war sie vor Jahren noch “Der Popstar aus der Transenbar”, die ZEIT ruft sie nun zur gegenwärtigsten aller Popkünstlerinnen auf. The times they are a changin…
Lustigerweise ist die konservativste Seite der Musikerin Letissier ihre Musik selbst. Stilistisch führt sie der Weg weit zurück in die verspielten, künstlich-kühlen Synthpop-Welten der 90er. Und es bliebe frostig, würde sie nicht wieder all ihre Leidenschaft, ihre Stimme, ihren Körper, den Gestus, den Tanz hinzufügen. Kaum jemand gibt sich, und da ist man tatsächlich schnell bei der vielzitierten Nähe zu Madonna, so mehrdimensional, vielschichtig, niemandem sonst gelingt es derzeit, die Reichhaltigkeit der eingesetzten Elemente in solch perfektes Zusammenspiel zu inszenieren wie Christine And The Queens. Die Bewegungen, ob trotzig, lässig, wild oder geschmeidig fließend, bringt sie stets in Einklang mit dem Sound, wahlweise zackig und funky, schwelgerisch chansonhaft oder auch mal von reduzierter Zartheit. Und eben auch schonungslos ehrlich, wenn es um Äußerlichkeiten geht. All die Rollenspiele in ihrem Videoclips sprechen die gleiche Sprache von der Sehnsucht nach Vielfalt und Imperfektion, nichts zu sehen von der weichgezeichneten Welt der Hochglanzprofile, keine Angst vorm Scheitern, Letissier trägt die Narben, Flecke, Schrammen und Unebenheiten ihrer Haut wie Auszeichnungen.
Es gibt von diesem Album wie auch beim vielbejubelten Debüt „Chaleur humaine” eine französische und eine englische Version – nun gut, letztere hilft vielleicht zum besseren Verständnis der Texte und ist im Sinne des Dienstleistungsgedankens sicher zu begrüßen. Wirklich getragen werden die Stücke aber nur von der Muttersprache. Das herzzerreißende „La Marcheuse“ (mit dem traurigen Blick auf den Stier), ein nicht minder berührendes „5 Dols“, „L’Etranger“ zuckt und flimmert in abgebremstem Midtempo, der Höhepunkt zuvor mit „Machin-chose“, dieser wunderbar traurigen Vergegenwärtigung von Vergänglichkeit und dem unabänderlichen Lauf der Dinge. Es sind wohl eher die langsamen Songs, die von „CHRIS“ in Erinnerungen bleiben (auch wenn „Damn, Dis-Moi“ und „Doesn’t Matter“ wirklich beeindruckende Tänze hinlegen können), wohl weil Letissier ihnen ein Maximum an Gefühl, an Intensität mitgeben kann. Ihre Entschlossenheit, ihre Verletzlichkeit und Hingabe sind Ausweise einer bemerkenswerten Entwicklung, die von jeder Menge Mut zeugen. Für den sie allen Respekt verdient, denn ein besseres Beispiel für jugendliche Selbstbestimmtheit wird sich nicht so schnell finden lassen. http://www.christineandthequeens.com/
15.10. Berlin, Columbiahalle
„CHRIS“
(Because Music/Universal)
Schon klar, am Ende muß jeder selbst entscheiden, ob und wie sehr er sich darauf einlässt. Aber was kann es denn in Zeiten, wo man das Gefühl hat, von lauter Schrumpfhirnen umgeben zu sein, die nichts mehr und höher schätzen als das ewig gleiche „Weiter so!“, schöneres geben, als auf diese Art irritiert, verunsichert, vielleicht provoziert zu werden? Schon als die ersten Bilder der „neuen“ Héloïse Letissier im Netz auftauchten, fragte man sich gespannt, wie weit sie damit gehen, wie konsequent Christine (der neue Name Chris so kurz wie ihre Haare) dieses Spiel wohl treiben würde. Oder ist es am Ende gar kein Spiel? Ist diese Transformation ihr Ernst und nicht nur professionelles Medienspektakel? Nun, die Konsequenz jedenfalls manifestiert sich in der Weigerung zur endgültigen Entscheidung – keine Festlegung von ihr zu haben, wer und wie sie ist, zu wem sie sich hingezogen fühlt, wen sie liebt. Keine Qual der Wahl, sondern absolute Freiheit einzufordern und auch zu bekommen. Und mit der öffentlichen Wahrnehmung zu leben – im Spiegel war sie vor Jahren noch “Der Popstar aus der Transenbar”, die ZEIT ruft sie nun zur gegenwärtigsten aller Popkünstlerinnen auf. The times they are a changin…
Lustigerweise ist die konservativste Seite der Musikerin Letissier ihre Musik selbst. Stilistisch führt sie der Weg weit zurück in die verspielten, künstlich-kühlen Synthpop-Welten der 90er. Und es bliebe frostig, würde sie nicht wieder all ihre Leidenschaft, ihre Stimme, ihren Körper, den Gestus, den Tanz hinzufügen. Kaum jemand gibt sich, und da ist man tatsächlich schnell bei der vielzitierten Nähe zu Madonna, so mehrdimensional, vielschichtig, niemandem sonst gelingt es derzeit, die Reichhaltigkeit der eingesetzten Elemente in solch perfektes Zusammenspiel zu inszenieren wie Christine And The Queens. Die Bewegungen, ob trotzig, lässig, wild oder geschmeidig fließend, bringt sie stets in Einklang mit dem Sound, wahlweise zackig und funky, schwelgerisch chansonhaft oder auch mal von reduzierter Zartheit. Und eben auch schonungslos ehrlich, wenn es um Äußerlichkeiten geht. All die Rollenspiele in ihrem Videoclips sprechen die gleiche Sprache von der Sehnsucht nach Vielfalt und Imperfektion, nichts zu sehen von der weichgezeichneten Welt der Hochglanzprofile, keine Angst vorm Scheitern, Letissier trägt die Narben, Flecke, Schrammen und Unebenheiten ihrer Haut wie Auszeichnungen.
Es gibt von diesem Album wie auch beim vielbejubelten Debüt „Chaleur humaine” eine französische und eine englische Version – nun gut, letztere hilft vielleicht zum besseren Verständnis der Texte und ist im Sinne des Dienstleistungsgedankens sicher zu begrüßen. Wirklich getragen werden die Stücke aber nur von der Muttersprache. Das herzzerreißende „La Marcheuse“ (mit dem traurigen Blick auf den Stier), ein nicht minder berührendes „5 Dols“, „L’Etranger“ zuckt und flimmert in abgebremstem Midtempo, der Höhepunkt zuvor mit „Machin-chose“, dieser wunderbar traurigen Vergegenwärtigung von Vergänglichkeit und dem unabänderlichen Lauf der Dinge. Es sind wohl eher die langsamen Songs, die von „CHRIS“ in Erinnerungen bleiben (auch wenn „Damn, Dis-Moi“ und „Doesn’t Matter“ wirklich beeindruckende Tänze hinlegen können), wohl weil Letissier ihnen ein Maximum an Gefühl, an Intensität mitgeben kann. Ihre Entschlossenheit, ihre Verletzlichkeit und Hingabe sind Ausweise einer bemerkenswerten Entwicklung, die von jeder Menge Mut zeugen. Für den sie allen Respekt verdient, denn ein besseres Beispiel für jugendliche Selbstbestimmtheit wird sich nicht so schnell finden lassen. http://www.christineandthequeens.com/
15.10. Berlin, Columbiahalle