Mikhail Khodorkovsky, Foto: PressCenter of Mikhail Khodorkovsky and Platon Lebedev (CC-BY-3.0)
WEIMAR. (fgw) Eine Weihnachtsgeschichte anno 2013: Pünktlich zu Weihnachten haben uns der ehemalige Außenminister Genscher und die Bundesregierung einen neuen Messias beschert: Michail Borissowitsch Chodorkowski, ein russischer Oligarch, schwebte in einem Privatflugzeug ein und war für ein paar Tage das bedeutendste Symbol der Freiheit. Gegen die russische Unterdrückung, gegen den neuen Zaren Putin, gegen die olympischen Unterdrückungsspiele in Sotschi. Gegen alles, was für die braven Deutschen östlich, also von Übel ist. Schließlich hatten sich deren Väter oder Großväter als Soldaten schon zu vorzüglichen Russlandkennern entwickelt.Von Uli Gellermann
Welch ein schönes Blitzlichtgewitter wartete auf den Erlöser, Kameras ohne Zahl und eine extrem gut besuchte Pressekonferenz im Berliner »Mauer-Museum«. Damit auch dem Letzten klar wurde: Chodorkowski war ein Kämpfer gegen die Mauer, Putin hat sie gebaut.
Der Flüchtling aus einem alten Deutschen »Schutzgebiet«
Affo Tchassei kam vor zwei Jahren über das Mittelmeer nach Europa. Mit weiteren 750 Menschen in einem 25 Meter langen Boot. Sie hatten kaum Wasser, drei seiner Mitpassagiere ertranken. Manchmal ertrinken auch komplette Schiffsbesatzungen. Nach seiner Ankunft in Lampedusa schlief Tchassei zwei Nächte mit 4500 anderen Geflüchteten auf dem Boden eines Erstaufnahmelagers. Nach den christlichen Wertekategorien muss der Flüchtling ein Ketzer sein. Denn nur Ketzer, Dissidenten lässt man zwei Jahre lang in einem italienischen Lager verfaulen: Arbeitsverbot und kein Ausgang. Dann schoben ihn die italienischen Behörden ab nach Hamburg. Dort lebt er jetzt mit vielen anderen Lampedusa-Flüchlingen. Mal auf der Straße, mal im Kirchenasyl. Ursprünglich kommt er aus Togo.
Ein neues Deutsches »Schutzgebiet« für den Messias
Chodorkowski war mal ein kleiner Funktionär im sowjetischen System: In einem wissenschaftlichen Institut erklomm der Student im Alter von 23 Jahren den Rang des stellvertretenden Sekretärs des Kommunistischen Jugendverbandes (Komsomol). Von dort aus, in der Zeit des schweren Säufers und Freundes von Helmut Kohl, Boris Jelzin, als Staatsvermögen an alle möglichen Gelegenheitsdiebe verschleudert wurden, gründete Chodorkowski erst eine Bank, dann erwarb er zu einem Spottpreis einen Ölkonzern. Auch, weil alle anderen Bieter nicht zugelassen waren. Der junge Oligarch verfügte über politische Macht: Seit 1992 war er Mitglied im Beraterstab des russischen Premierministers und im März 1993 stellvertretender Minister für Brennstoffe und Energie. Ende 1993 beteiligte er sich an der Finanzierung und Organisation des Wahlkampfes für Präsident Jelzin. Während die deutschen Medien rührende Bilder von den Strickjacken-Freunden Helmut und Boris unter die Massen warfen, fand einer der größten Raubzüge der Geschichte statt: Ein paar Oligarchen rissen sich das russische Volksvermögen unter den Nagel, sie wurden unermesslich reich, der Rest der Russen wurde ärmer.
Am deutschen Wesen sollte und soll die Welt genesen
Die Vorfahren von Affo Tchassei konnten bereits von 1884 bis 1914 Deutsche kennen lernen: Seine Heimat war in dieser Zeit deutsches »Schutzgebiet«. Wahrscheinlich wurden die Togolesen damals von der deutschen Polizei zum Schutz vor sich selbst niedergeschossen und unterdrückt. Noch heute zeugen Massengräber wie jenes in der Nähe der Stadt Yendi vom mörderischen Fleiß der Deutschen. Nach dem ersten Weltkrieg, übernahmen die Franzosen den »Schutz« der Togolesen. Auch Tchassei sollte die beiden Nationen später kennen lernen. Längst war der junge gebildete Mann als Oppositioneller vor der Familiendiktatur der Gnassingbé-Sippe aus dem Kinderhändler-Land Togo geflohen, seit sechs Jahren schon hatte er einen guten Job in Libyen, da zerstörten NATO-Truppen seine Lebensperspektive. Sie brachten jene »Opposition« an die Macht, die ihn und viele andere in Boote setzte, um sie dem Tod oder der Asyl-Suche preis zu geben. Frankreich war am Libyenkrieg unmittelbar beteiligt, die deutsche Bundesrepublik nur durch Hilfsdienste und Kopfwackeln in den NATO-Gremien.
Von Beginn an war Chodorkowski ein Darling der deutschen Medien. Als er dann endlich den Boden der Bundesrepublik betrat, brach ein nie gekannter Jubel aus: »Freiheit, Freiheit, Freiheit«, skandierte das HANDELSBLATT und der SPIEGEL assistierte mit »Mission Freiheit«. Ein ehemaliger Außenminister fädelte den Freiheits-Flug des Oligarchen ein, der Bundespräsident freute sich heftig, die Kanzlerin, die den deutschen Botschafter in Moskau angewiesen hatte, alles Mögliche für die Entlassung Chodorkowskis aus der Haft zu tun, kommentierte: »Ich habe mich sehr oft dafür eingesetzt, dass Herr Chodorkowski freigelassen werden kann, und deshalb freue ich mich natürlich, wenn das morgen passieren sollte.« Dass der »Europäische Gerichtshof für Menschenrechte« das Verfahren gegen Chodorkowski nicht als politisch werten mochte, das erfuhr man aus deutschen Medien nur am Rande. Denn der neue Beruf des Milliardärs ist »Regimekritiker«. Wie gut für ihn, dass er nicht die US-Regierung kritisiert wie Edward Snowden. Dann hätte er nie Asyl bekommen.
Asyl trotz schöner Predigten nicht für jeden
Politisches Asyl hat Affo Tchassei natürlich bis heute nicht. Er, wie die vielen anderen Flüchtlinge in Deutschland, wäre froh wenn man ihm den § 23 des Aufenthaltsgesetzes zugestehen würde. Denn andernfalls können Flüchtlinge in ihre Herkunftsländer abgeschoben werden. In Tchasseis Fall kann das Haft oder Tod bedeuten. Haben wir in der Weihnachtsansprache des Bundespräsidenten ein gekonntes Schluchzen gehört, als er so unkonkret wie möglich für die Flüchtlinge forderte: „Machen wir unser Herz nicht eng«. Geschickt vermied er eine Ansprache der Verantwortlichen, eingeübt hatte der gelernte Prediger das Weihnachts-Tremolo. Affo Tschassei wird auf die Besserung seiner Lage lange warten müssen. Seine Aussichten sind eher trüb.
Wenn die Sicht aus dem Berliner Luxus-Hotel der Spitzenklasse »Adlon« für Michail Chodorkowski trüb sein sollte, dann liegt es nur am Berliner Schmuddelwetter. Das Verfahren gegen seine Schweizer Bank wegen Geldwäsche hat der Münsteraner Oberstaatsanwalt Rainer Neuschmelting vorläufig eingestellt. Der Visumantrag für die Schweiz läuft. Dort, wo ein Teil von Chodorkowskis Geld liegt, gehen zwei seiner Söhne auf exklusive Schulen. Das Vermögen des Oligarchen vermutet der FOCUS bei 17 Millionen aufwärts. »Das Geld reicht mir zum Leben«, sagt Michail Chodorkowski bescheiden. So wird der neue Heilige belohnt. Vom ketzerischen Asylanten kann man das nicht sagen.
[Erstveröffentlichung: Freigeist Weimar]