Charles Eisenstein: «Der Geist von Occupy»

Nichts weniger als eine Revolution des Bewusstseins sieht Charles Eisenstein hinter der Occupy-Bewegung. Es gehe ihr nicht so sehr darum, Korrekturen am Gesellschaftssystem einzufordern, sondern das System grundsätzlich in Frage zu stellen und einen Paradigmenwechsel einzuleiten, eine «Revolution der Liebe» zu verwirklichen, die niemanden ausgrenze, nicht einmal das eine Prozent der Menschheit, das – im Gegensatz zu den restlichen 99 Prozent – von den gegenwärtigen Verhältnissen profitiert. – Die Besprechung eines berührenden Büchleins.

Zwei kurze, holzschnittartige Essays des «Spin-Doktors der Occupy-Bewegung» vereinigt das schmale Buch, dessen deutsche Übersetzung im Scorpio-Verlag erschienen ist. Das erste, «Keine Forderung kann gross genug sein», lotet die Motive der Occupy-Bewegung aus und führt sie auf nichts geringeres als eine «Revolution des Bewusstseins» zurück. Im zweiten Essay unter dem Titel «Geld und die Krise der Zivilisation» zeichnet Eisenstein, der an der Universität von Yale Philosophie und Mathematik studiert hat, in groben Zügen unser Geldsystem nach und zeigt auf, wie es unsere Zivilisation an den Abgrund gebracht hat.

«Keine Forderung kann gross genug sein»
Den Protestbewegungen der Empörten in Europa und den Vereinigten Staaten wurde immer wieder vorgeworfen, sie hätten keine klaren Forderungen, mit denen sie auf die aktuelle Politik Einfluss nehmen könnten. Die Proteste seien deshalb nicht geeignet, Änderungen im bestehenden Gesellschaftssystem herbeizuführen. Doch der Bewegung geht es eben nicht um einzelne Korrekturen – oder gar um Reparaturen der Wachstumsmaschine. Die Empörung greift wesentlich tiefer. Die Motive der Proteste zielen auf die Grundlagen unserer Gesellschaft: auf eine grundsätzliche und demokratische Erneuerung des gesellschaftlichen Zusammenlebens («Echte Demokratie jetzt!»), auf die bedingungslose Respektierung der Würde aller Menschen, ja, aller Kreatur und der Erde als solcher («Wir sind keine Ware in den Händen von Politikern und Banquiers»). Nicht nach dem politisch Machbaren greift die Occupy-Bewegung, sondern nach einer Wende in der Menschheitsentwicklung. «Jede Forderung, die wir im Rahmen der politischen Realität stellen können, ist zu gering. Jede Forderung, die wir stellen können, weil sie das widerspiegelt, was wir wirklich wollen, ist politisch unrealistisch», so Eisenstein.

Der Autor bezeichnet den Impuls der Protestbewegungen als eine Revolution der Liebe, «… selbst auf die Gefahr hin, damit als Idealist dazustehen». Die Aufgabe der Bewegung bestehe darin, sich «für eine Welt einzusetzen. die wahrhaft schön, fair und gerecht sei».

Nun, man kann dem Autoren einiges vorwerfen: Er sei ein naiver Idealist, es fehle ihm an politischem Bewusstsein – und einer entsprechenden Stossrichtung – und er verkläre die Motive der Occupy-Bewegung zu einer vermeintlich harmlosen «Revolution der Liebe». Doch damit macht man es sich zu einfach und misst ein offensichtlich neues Phänomen mit alten Massstäben. Denn die Bewegung proklamiert nicht so sehr hoch stehende Ziele, sondern lebt ganz praktisch neue Formen des gemeinsamen Willens und Aktivismus. Allerdings droht sie zurzeit – das muss man mit Bedauern feststellen – in der zunehmenden Polarisierung der Gegenwart von Kämpfen nach alten Mustern übertönt und verdrängt zu werden.

«Geld und die Krise der Zivilisation»
Im zweiten Essay beschreibt Charles Eisenstein anschaulich, wie unser Geldsystem letztlich zu Krise und Zusammenbruch führen muss. Denn die Geldmenge wächst durch die Zinsen, Zinseszinsen und die Geldschöpfung aus dem Nichts mit mathematischer Gewissheit ins schier Unermessliche. Wirtschaftlich gibt das indessen nur Sinn, wenn dieser wachsenden Geldmenge auch ein wachsendes Volumen an Waren und Dienstleistungen gegenübersteht, die dem Geld erst einen realen Wert verleihen. Und dieser Hunger des Geldkreislaufes nach realen Werten bewirkt, dass tendenziell alles und jedes der menschlichen Lebenswelt zur handelbaren Ware oder Diensleistung gemacht wird. Wie eine riesige Krake greift das Geldsystem nach allen realen Werten, um sie sich einzuverleiben. «Die Krise, der wir heute gegenüberstehen, ist aus der Tatsache entstanden, dass es kaum noch soziales, kulturelles, natürliches und spirituelles Kapital gibt, das sich zu Geld machen liesse. Jahrhunderte, Jahrtausende beinahe ungebrochener Gelderzeugung haben uns so mittellos gemacht, dass wir nichts mehr zu verkaufen haben.»

Eisenstein konstatiert, was viele zutiefst empfinden: Die Pleite dieses Geldsystems ist unausweichlich. Doch bei dieser Analyse, die gar so neu nicht ist, bleibt er nicht stehen. Vielmehr sieht er darin auch die Möglichkeit, dass ein gänzlich neues Verständnis von Geld und Wirtschaft – ein neues Bewusstsein darüber – entstehen kann, ja, entstehen muss, um der globalen Erschöpfung zu entrinnen. Und dabei geht es um nichts geringeres, als «Dinge aus dem Reich der Waren und Dienstleistungen zu holen und sie in das Reich der Gaben, der Gegenseitigkeit und der Gemeinschaftlichkeit zurückzubringen». Eisenstein sieht in der aktuellen Krise die Möglichkeit gegeben, dass aus einer vom Eigennutz beherrschten Wirtschaft eine solidarische, brüderliche Wirtschaft hervorgeht – aus reiner Not zunächst, doch immer mehr auch aus einer «Revolution unseres Selbstempfindens, unserer Identität». Denn das «für sich stehende, getrennte Ich eines Descartes und eines Adam Smith hat sich totgelaufen und ist überholt. Wir erkennen unsere Untrennbarkeit voneinander und von der Gesamtheit des Lebens. Zins täuscht über diese Einheit hinweg, weil er auf das Wachstum des getrennten Ichs abzielt, und zwar zulasten von etwas Externem, etwas anderem.»

Eisenstein sieht am Ende einer Ökonomie des Egoismus eine Kultur des Schenkens aufkeimen, eine Kultur, die auf einem neuen, erweiterten Selbstverständnis fusst und über die rein materialistische Kultur der Gegenwart hinausweist.

Charles Eisenstein: «Der Geist von Occupy»

 

Charles Eisenstein:
«Der Geist von Occupy»

64 Seiten, kartoniert
Scorpio Verlag, München 2012
ISBN 978-3-942166-94-2

 


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