Buwalda, Peter: Bonita Avenue

Ich weiß nicht mehr, wie oft ich „Bonita Avenue“ in diversen Buchhandlungen bereits in der Hand hielt, mich dann aber doch für ein anderes Buch entschloss. Der Klappentext verhieß Altbekanntes und Bewährtes – das Zerbrechen einer Familie. Wozu also Buwalda lesen, wenn man auch zu Franzen greifen kann? Nach der längst überflüssigen Lektüre fallen mir da gleich einige Gründe ein!


Klappentext

Was, wenn die eigenen Kinder sich gegen einen wenden? Joni Sigerius, Stieftochter eines angesehenen Mathematikers und Rektors einer holländischen Universität, hat zusammen mit ihrem Freund Aaron ein Unternehmen aufgezogen, dessen Existenz sie lieber geheim halten will. Als es auffliegt, fliegt in der Stadt Enschede, in der die Familie lebt, auch eine Feuerwerksfabrik in die Luft. Für Siem Sigerius, den Stiefvater, schlägt das plötzliche Wissen ein wie eine Bombe, erschüttert den Boden, auf dem er vermeintlich mit beiden Beinen steht. Da im Sommer desselben Jahres auch noch sein Sohn aus der Haft entlassen wird, bleibt in der Familie kein Stein mehr auf dem anderen.

Der erste Satz

Als Aaron an einem Sonntagnachmittag des Jahres 1996 von Joni Sigerius zum umgebauten Bauernhof ihrer Eltern mitgenommen wurde, um dort offiziell vorgestellt zu werden, gab ihr Vater ihm schmerzhaft fest die Hand.

Was für ein Debüt. „Bonita Avenue“ ist sowohl vom Umfang, als auch vom Inhalt leichthin als gewaltig zu bezeichnen. Folgerichtig hagelte es für Buwalda in seiner niederländischen Heimat Literaturpreisnominierungen, die sich für ihn glücklicherweise auch in reißenden Absatzzahlen niederschlugen. Buwalda hatte dafür einiges riskiert, gab seinen sicheren Journalistenjob auf und konzentrierte sich vier lange Jahre nur aufs Schreiben. So agiert nur jemand, der sich seiner Wirkung sicher ist!

Wie nicht anders zu erwarten, wurden schnell Vergleiche laut mit den ausgewiesenen Könnern des Genres. Parallelen zwischen Buwalda und Updike, Eugenides und Co. lassen sich zwar durchaus ziehen, sind meiner Meinung nach aber nicht zielführend. Wo letztere  behutsam das Innen- und Auseinanderleben einer Familie penibel studieren, zerfetzt Buwalda unverrückbar geglaubte Sicherheiten und lässt allerorts nur Opfer zurück. Wie bei der rahmengebenden Feuerwerkskatastrophe ist nach der Schlüsselszene nichts mehr beim Alten und die Auflösung alles Intakten in einem tragödienhaften Ende unausweichlich.

Buwalda wechselt in seiner Erzählperspektive zwischen drei Charakteren, die aus unterschiedlicher zeitlicher Distanz die unheilvollen Ereignisse beleuchten – längere Lesepausen werden bei dieser Konstruktion also bestraft. Siem Sigerius, Tochter Joni und Beinahe-Schwiegersohn Aaron. Alle Spannung und Aufmerksamkeit bündeln sich in Siem, als dessen Aufstieg und Fall ich „Bonita Avenue“ gelesen habe. Erfolgreicher Sportler, mathematisches Genie, Universitätsrektor und künftiger Wissenschaftsminister – Siem ist ein Alpha-Tier, der sich niemandem unterordnet. Doch was passiert, wenn ein solcher Mann, der stets alles im Griff zu haben scheint, mit zutiefst archaischen Ängsten und Existenzsorgen konfrontiert wird? Wilbert, der missratene, gewalttätige und vollkommen unbeherrschbare Sohn aus erster Ehe betritt die Bühne und sinnt auf Rache. Vor Jahren hatte Siem seine nicht ganz zweifelsfreie Inhaftierung begünstigt, um damit sein neues, perfektes Patchwork-Familienglück zu schützen. Dennoch scheint etwas Wilbert auf Stieftochter Joni abgefärbt zu haben. Gemeinsam mit Aaron betreibt sie eine lukrative Internetseite, auf der sie Männern tiefere Einblicke von sich gewährt. Was aber, wenn der eigene Vater beim nächtlichen Bilderkonsum darüber stolpert? Buwalda erspart Siem nichts!

Endzeitgedanken über seine Rolle als Erzieher. Was hat er falsch gemacht? Hat er Signale übersehen? Zu sehr auf Leistung gepocht? (…) Seinen Sohn zog er nicht auf, seine Töchter zeugte er nicht – über die Ergebnisse könnte er heulen, würde der Alkohol ihn nicht ruhigstellen. Endzeitgedanken über das Jahr, als er sie beide in seiner Obhut hatte, Wilbert und Joni, seine weitreichenden Verdächtigungen gegenüber seinem Sohn, seine Sorgen hinsichtlich Wilberts hormonaler Reaktion auf die plötzlich über ihn gekommene Schönheit seiner Stiefschwester. Eine Frage, die sich wie Gift in den Gedankenstrom mischt: Was kann man von fremden Genen erwarten?

Buwalda unterstellt seinen Charakteren verstörend primitive Triebe: Hass, Neid, Sexsucht, Angst, Habgier. Umgebende soziale Strukturen geben weder Halt, noch weisen sie Grenzen auf. Losgelöst von jeder Konvention agieren sie in einem luftleeren Raum, dessen einziger Rahmen das jeweilige Ich bildet. Aus dieser Reduzierung auf urmenschliche Motivationen bezieht „Bonita Avenue“ seine Kraft. Gleichzeitig ist dies auch die größte Schwäche. Jede Charakterzeichnung steigert sich ins Zügellose, ins Exzessive, um den Spannungsbogen weiter zu bedienen. Dass der Mensch dahinter stets glaubwürdig bleibt, ist Buwaldas größter Verdienst.

„Bonita Avenue“ ist für mich kein klassischer Familienroman à la Franzen – dazu fehlt ihm die gesellschaftliche Relevanz. Buwalda interpretiert das Genre neu und reichert es mit Thriller-Elementen an. Das Ergebnis ist ein beunruhigender desillusionierender Blick in die menschliche Psyche eines Menschen, der sich zutiefst in seiner Existenz bedroht fühlt. Dass dies so abnormal, grell und übersteigert daherkommt und dabei dennoch so nachvollziehbar erscheint, zeugt von Buwaldas großer Erzählkunst und macht große Lust auf die kommenden Erscheinungen.


Was bleibt?

„Bonita Avenue“ ist großartig, aber nicht perfekt. Es hat Längen, es ist über weite Teile in seiner Handlung absehbar und dennoch hat es mich wunderbar unterhalten. Das liegt vorrangig an Siem Sigerius. Buwalda zeichnet ihn so genau und eindringlich, dass sein Leiden nachempfindbar wird. Die Konfrontationen sind so gewaltig in ihrem Maßstab, dass ich mit Siem die Hoffnung auf eine Wendung zum Guten verlor und fassungslos das furiose Ende verschlang. Oft genug ist die Schwäche eines Romans die mangelnde innere Nähe zu den Hauptpersonen – in „Bonita Avenue“ ist das garantiert nicht der Fall.

Buwalda, Peter: Bonita Avenue. Erstmals erschienen 2010.

Taschenbuchausgabe: Rowohlt. 639 Seiten. ISBN 978-3-499-25843-5. € 10,99.


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Interview mit Peter Buwalda auf taz.de


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