Kracht, Christian: Imperium

Lesen bedeutet, über die eigene Erfahrungswelt hinauszugehen, sich vom Alltag zu entfernen, neue Orte und neue Wesenszüge kennenlernen zu können. Zudem besteht die Möglichkeit, über eine zeitliche Distanz hinweg etwas über vergangene soziale Strukturen oder Ansichten zu erfahren. Eine so plakative und provokante Illustration einer ganzen Epoche wie in „Imperium“ liest man dennoch selten.


Klappentext

In „Imperium“ erzählt Christian Kracht eine Aussteigergeschichte in den deutschen Kolonien der Südsee, indem er virtuos und gut gelaunt mit den Formen des historischen Abenteuerromans eines Herman Melville, Joseph Conrad, Robert Louis Stevenson oder Jack London spielt.

Der erste Satz

Unter den langen weißen Wolken, unter der prächtigen Sonne, unter dem hellen Firmament, da war erst ein langgedehntes Tuten zu hören, dann rief die Schiffsglocke eindringlich zum Mittag, und ein malaiischer Boy schritt sanftmütig und leise das Oberdeck ab, um jene Passagiere mit behutsamen Schulterdruck aufzuwecken, die gleich nach dem üppigen Frühstück wieder eingeschlafen waren.

Deutschland zu Beginn des letzten Jahrhunderts war ein schwieriger Ort für einen praktizierenden Nudisten und Vegetarier. War man dann noch überzeugter Kokovore,  blieb einem nur die Auswanderung. August Engelhardt war von der Vollkommenheit, ja der gottgesegneten Vorrangstellung der Kokosnuss über alle anderen Nahrungsmittel überzeugt. Konsequenterweise emigrierte er nach Deutsch-Neuguinea, erwarb eine Insel mitsamt Kokosplantage und gründete den Sonnenorden, um seine Ideen missionarisch zu verbreiten.

In „Imperium“ mischen sich historisch verbürgte Realität mit Fiktion. Kracht zeichnet in Grundzügen die komisch-tragische Aussteigergeschichte nach und lässt ebenfalls historisch belegte Personen die Bühne betreten, weicht aber beizeiten von der Geschichte zugunsten seiner Story ab. Und Kracht hat einiges zu erzählen. Engelhardt ist ihm nur Mittel zum Zweck, ein harmloser Ritter von der traurigen Gestalt, der slapstick-artig durch das Seifenblasengebilde der deutschen Schutzgebiete stolpert. Voll kolonialem Sendungsbewusstsein werden die Segnungen des wilhelminischen Militärstaats den Einwohnern vorgeführt, wenngleich die weißen Herren sich nicht ganz zu einer Teilung der Vorzüge mit den Einheimischen durchringen können. Statt dessen bleibt man lieber unter sich und versucht voller Deutschtümelei ein halbwegs annehmbares Leben am Äquator zu führen.

Nun, in diese Zeit fällt diese Chronik, und will man sie erzählen, so muß auch die Zukunft im Auge behalten werden, denn dieser Bericht spielt ganz am Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts, welches ja bis zur knappen Hälfte seiner Laufzeit so aussah, als würde es das Jahrhundert der Deutschen werden, das Jahrhundert, in dem Deutschland seinen rechtmäßigen Ehren- und Vorsitzplatz an der Weltentischrunde einnehmen würde, und es wiederum aus der Warte des nur wenige Menschenjahre alten, neuen Jahrhunderts durchaus auch so erschien.

Kracht geht über ein reines Beschreiben hinaus und rekonstruiert die Zeit durch die Sprache. Mutig und konsequent bedient er sich am Repertoire des klassisches Abenteuerromans und haucht einem abgeschlossen geglaubtem Genre neues Leben ein. Aus jedem Satz quillt heiterer und unerschöpflicher Zukunftsglaube und Zivilisationsstreben. Der Preis für diese Authentizität ist die allgegenwärtige und mehr als fade Beimischung überkommenen Gedankenguts. Herrenrassendenken offenbart sich nicht nur bei den deutschstämmigen Bewohnern, sondern manifestiert sich auch in der Haltung des Erzählers. Dem Spiegel war dies Grund genug, „Imperium“ mit rechtsgerichtetem Gedankengut gleichzusetzen.

Wie bei den meisten Texten entsteht deren Einordnung jedoch weniger durch den Text als vielmehr durch den Leser. Persönlich habe ich „Imperium“ als eine grandiose Parodie auf das wilhelminische Zeitalter gelesen. Alle Macht- und Vormachtansprüche der Kolonialherren werden konterkariert durch die Figur Engelhardts, dem ähnlich des noch in der deutschen Geschichte folgenden Vegetariers die Kontrolle über seinen Sonnenorden mehr und mehr entgleitet. Jedes zivilisatorische Sendungsstreben wird ad absurdum geführt angesichts der fortschreitenden Verrohung und Hinwendung zur Barbarei, die anders als in der Geschichte für Engelhardt jedoch ein glimpfliches Ende nimmt.

Ja, so war Engelhardt unversehens zum Antisemiten geworden; wie die meisten seiner Zeitgenossen, wie alle Mitglieder seiner Rasse war er früher oder später dazu gekommen, in der Existenz der Juden eine probate Ursache für jegliches erlittenes Unbill zu sehen.

Kracht ist zu verdanken, dass diese schwere Thematik nicht schwer daherkommt, sondern federleicht. Entspannt und sich seiner Stilmittel absolut sicher, fabuliert er über die Freuden und noch mehr Leiden in den Schutzgebieten – die wertvollen Bücher wellen sich bei der Luftfeuchtigkeit, das Klavier ist aus dem gleichen Grund ständig verstimmt und die Herrenmenschen schwitzen und werden von Ungeziefer gepiesackt. In der Summe ergibt das herrlich abstruses und karikierendes Bild der deutschen Gesellschaft zur Kaiserzeit, die voller Verblendung in die kommenden Katastrophen laufen sollte.


Was bleibt?

„Imperium“ hinterlässt beim Lesen sicher gespaltene Gefühle. Ganz beiläufig entwickelt Kracht einen Grundtenor, der ob seines Herrenrassedenkens mehr als befremdlich daherkommt. Nun muss man sich entscheiden, wie man das auffassen möchte. Ich habe mich für die bedenkenlose Lesart entschieden und genoss „Imperium“ als eine moderne Variante von Klaus Manns „Der Untertan“. Sicherlich ist es kein Buch, das große innere Anteilnahme auslöst. Dafür aber ein Buch, das von seiner Fremdartigkeit lebt und mich ab der ersten Seite mit einer Sprache fasziniert hat, die nach einer Zeit schmeckt, als die weißen Flecken auf der Landkarte noch größer waren. Alles in allem wunderbar eingängige Literatur, die nach einem Lesen in der Sonne schreit.

Kracht, Christian: Imperium. Erstmals erschienen 2009.

Taschenbuchausgabe: Fischer Verlage. 244 Seiten. ISBN 978-3-596-18535-1. € 9,99.


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