Bürger ins Erziehungsheim!

Im Zusammenhang mit Familie und Terror, die ich in dem Kinderschutzartikel kurz erwähnte, sind mir noch ein paar andere Dinge eingefallen. Etwa diese erbärmliche Farce, die sich Runder Tisch Heimerziehung nannte. Dazu gibt es sogar in den bürgerlichen Medien ganz treffende Kommentare, einer davon ist auf tagesschau.de zu finden. Claus Heinrich vom SWR erklärt anschaulich und nachvollziehbar, was den Opfern der schwarzen Pädagogik, die bis in die 70er Jahre in deutschen Kinderheimen keineswegs anrüchig war, bis heute angetan wird, um die Mär vom bundesrepublikanischen Rechtsstaat aufrecht zu erhalten. Denn im Rechtsstaat kann es kein Unrecht geben. Und wenn doch, dann nur ein ganz bisschen. Deshalb sollen die ehemaligen Heimkinder jetzt auch mit einer symbolischen Entschädigung zufrieden sein. Denn was man ihnen angetan hat, ist ohnehin nicht wieder gut zu machen. Und außerdem kann es eigentlich gar nicht passiert sein.

Weiterhin fällt mir ein, dass die inzwischen nur noch als Spitzen-Terroristin bekannte Namensgeberin der Baader-Meinhof-Bande, Ulrike Meinhof, im Verlauf ihrer journalistischen Karriere immer wieder auch in deutschen Kinderheimen recherchierte. Durchaus möglich, dass diese Erfahrung auch zu ihrem späteren Bild vom Staat als Schweinessystem beigetragen hat.

Ulrike Meinhof hat Pädagogik und Psychologie studiert und war in den 60er Jahren eine engagierte und bekannte linke Journalistin. Sie war Kolumnistin und zeitweise auch Chefredakteurin der linken Studentenzeitschrift konkret. Ganz gleich, was man von ihrer späteren Karriere als RAF-Terroristin halten mag, Ulrike Meinhof hat unter anderem eine ganze Reihe von Texten und Radiofeatures zum Thema Heimerziehung verfasst. Als Pädagogin interessierte sie sich ernsthaft für die Zustände im deutschen Erziehungswesen, insbesondere in der so genannten Fürsorgeerziehung, um die es nun wirklich nicht gut stand in jeder Zeit. Zehntausende ehemaliger Heimkinder können das leider durch eigene schlechte Erfahrung bestätigen.

Ulrike Meinhof: „Heimerziehung, das ist der Büttel des Systems, der Rohrstock , mit dem den proletarischen Jugendlichen eingebläut wird, daß es keinen Zweck hat sich zu wehren“

Auch der Film Bambule beschäftigt sich mit den Zuständen in deutschen Kinderheimen, er handelt von einem Aufstand („Bambule“) in einem geschlossenen Fürsorgeheim für Mädchen, die gegen die harte Behandlung dort aufbegehren.

Der Film wurde 1970 fertig gestellt und sollte eigentlich im Mai 1970 ausgestrahlt werden, wegen der Beteiligung von Ulrike Meinhof an der Befreiung von Andreas Bader wird die Sendung abgesetzt. Das Drehbuch erscheint 1971 im Wagenbach Verlag, 24 Jahre nach dem geplanten Sendetermin wird Bambule als historisches Fundstück im Mai 1994 auf SW3 zum ersten Mal gesendet.

Dazu habe ich ein interessante Hausarbeit gefunden, die für ein pädagogisches Seminar angefertigt wurde. In dieser Hausarbeit geht es nicht nur um die Zustände, die der Film Bambule beschreibt, sondern auch um eine Bestandsaufnahme, was seit dem bis zum Jahr 1999 in der Heim- und Fürsorgeerziehung in Deutschland passiert ist.

Ulrike Meinhof in einem Hörfunkbericht 1969: „Zu geringe Einkommen, zu viele Kinder, zu kleine Wohnungen – wo das für die proletarische Familie zur Katastrophe wird, haben bürgerliche Familien immer noch belastbare Nachbarn, Verwandte, ein Sparbuch, sind kreditwürdig“.

Der Autor der Hausarbeit stellt fest, dass soziale Situation der Familien und der jungen Menschen, die heute Erziehungshilfe in Anspruch nehmen, im Grunde noch die Gleiche ist. Nur dass im Jahr 1997 mehr als doppelt so viele jungen Menschen von Sozialdiensten betreut wurden als 1970 und ein unbefangener Neoliberalismus dafür sorgt, dass Arbeitslosigkeit um sich greift, Wohnungen noch teurer und Löhne noch geringer werden. Das war aber noch in vergleichsweise glücklichen Vor-Krisen-Zeiten! In den vergangenen Jahren hat sich die Lage kontinuierlich verschlechtert; die Menschen verdienen im Durchschnitt noch weniger, Wohnraum ist teurer geworden und Sparprogramme treffen ohnehin immer diejenigen, die ohnehin schon wenig haben. Die Probleme der unteren Schichten keinesfalls geringer, sie verschärfen sich.

Und: Die ohnehin schon nicht besonders ausgeprägte Solidarität der Bürger nimmt immer weiter ab. Anfang des Monats machte gar eine Meldung von der Verrohung des Bürgertums die Runde. Bielefelder Soziologen um Wilhelm Heitmeyer herum fanden genau das heraus, was Ulrike Meinhof schon vor mehr als 40 Jahren festgestellt hat: Das Bürgertum denkt vor allem an sich selbst.

Und die Heitmeyer-Studie bestätigt das in schockierender Deutlichkeit: Je besser es den Leuten geht, je mehr sie verdienen, desto asozialer werden ihre Einstellungen. Neu mag vielleicht eine Tendenz zu einem aggressiveren Antiislamismus sein (aber das kennt man im Prinzip auch, nur ist es gerade out, Antisemit zu sein). Aber wer sich mit den Zuständen vor einigen Jahrzehnten beschäftigt (oder gar einigen Jahrhunderten), stellt schnell fest, dass gerade das Bürgertum nie besonders freundlich gegenüber denen war die noch unter ihnen stehen. Weil die dort bleiben sollen. Um jeden Preis.



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