Der Bodhisattva Vidyavajra fragte: „Oh Lehrer, Bhagavan, kann jemand ein Buddha werden, einfach indem er die Seinsweise des Grundes kennt, ohne meditieren zu müssen? Möge der Lehrer das erklären!“
Er erwiderte: „Oh Vidyavajra, wenn jemand die Seinsweise des Grundes nicht kennt, dann wird dieser nicht erleuchtet werden. Daher enthüllt die Wissenssammlung der mittleren Lehren, nämlich der sogenannte Dharma ohne Merkmale, dass alle Phänomene angefangen bei Form bis zur Allwissenheit, Leerheit sind. Ohne das zu kennen, wird man nicht befreit. Deshalb wurden die 6.400.000 Tantras der Großen Vollkommenheit offenbart. Sei dir bewusst, wenn man erleuchtet werden würde, ohne das zu kennen, dann gäbe es keine Notwendigkeit für diese Lehren.
Selbst wenn jemand die Leerheit des eigenen Geistes kennt, aber nicht die Leerheit des gesamten belebten und unbelebten Universums mit seinen drei Bereichen kennt, hat dieser nichts weiter als die persönliche Merkmalslosigkeit erkannt. Somit ist dieser über das Shravakayana nicht hinausgelangt. Auch wenn jemand weiß, dass das gesamte belebte und unbelebte Universum von seiner Seite her leer ist, seine eigene essentielle Natur aber nicht als Leerheit ermittelt und weiß, dass der Grund Leerheit ist, dann wird Leerheit auf etwas Wertneutrales reduziert und daraus entsteht kein Nutzen.
Selbst wenn jemand das als Leerheit erkennt, denkt man, dass Leerheit keine guten oder schlechten Qualitäten hat und das ausgezeichnete Qualitäten und erleuchtete Aktivität von irgendwo anders abstammen. Versteht man Leerheit wie ein leeres Gefäß und ausgezeichnete Qualitäten und erleuchtete Aktivität wie seinen Inhalt, dann nimmt man vielleicht an, dass die erleuchtete Aktivität von irgendwo anders dahinein gelangen müssten. In diesem Fall müsste irgendein anderer reicher Besitzer der erleuchteten Aktivität, ein Spender, der dieses Gefäß auffüllt, müsste irgendwo anderes existieren, wenn dies für den Buddha dieses Ortes möglich wäre, als etwas Dauerhaftes, Stabiles und Unbewegliches zu existieren, dann wäre er nicht leer. Und wenn Leerheit eine Leerheit von Materie wäre, ohne gute oder schlechte Eigenschaften, dann würde das fälschlicherweise implizieren, dass alle Phänomene des belebten und unbelebten Universums mit ihren Sinnesobjekten, die überall in diesem Leben, während des Traumzustandes und im nächsten Leben erscheinen, selbstentstanden und selbst ausreichend wären und die Erscheinungen und der Geist der zyklischen Existenz wären etabliert. Wenn jemand die Natur dessen erkennt und Durchdringung erlangt, dann manifestieren sich Erscheinungen als der Ausdruck der Kayas und der ursprünglichen Weisheiten. Aufgrund dieser Umwandlung wird der Zustand der Buddhaschaft manifest und die Aspekte seiner ausgezeichneten Qualitäten sind natürlich vollkommen.
Leerheit ohne Qualitäten?
Es gibt vielleicht viele Leute, die den Raum als eine Leerheit der Materialität ohne irgendwelche guten oder schlechten Qualitäten begreifen. Da jedoch der Raum der Grund und die essentielle Natur der fünf Elemente und der verschiedenen Sinnesobjekte ist, welche Begründung zwingt einen zu behaupten, es sei eine Leerheit der Körperlichkeit ohne gute oder schlechte Qualitäten? Es gibt keine anderen erscheinenden Objekte als den Raum und wenn jemand nach dem Raum als etwas Substanzielles greift, dann macht es keinen Sinn zu behaupten, Samsara und Nirvana seien große Leerheit. Wenn es etwas geben würde, auf das man meditiert und das anders als die Manifestationen des Bereichs des durchdringenden Raumes wäre, was macht es dann für einen Sinn, von Nicht-Meditation, Nicht-Bezug und Nicht-Greifen zu sprechen? Die wesentliche Natur des Themas der Meditation ist Leerheit und wenn das nicht erkannt wird, dann wird die Meditation von einem ohne Sicht auf etwas Wertneutrales reduziert werden. Wie könnte das denn eine echte Meditation sein?
Wenn jemand darin versagt, Samsara und Nirvana als natürlich erscheinenden Ausdruck zu erkennen und zu verstehen, was bringt das Identifizieren von Gewahrsein? Festzustellen, dass Samsara und Nirvana letztendlich von der Natur der großen Leerheit sind und zu erkennen und sich zu vergewissern, dass alles von der Natur des einen Raumes ist, ist Realisation und nur das ist die Sicht.
Oh Vidyavajra, indem man das weiß, es durch und durch ergründet und Überzeugung darin erlangt, dies dann ernsthaft in der Praxis der Meditation auch anwendet, wird man schließlich den Zustand der Befreiung erreichen und das ist der überragende Schlüssel der Praxis. Andererseits wenn bloßes intellektuelles Wissen ausreichend wäre, ohne Bedarf an Meditation, dann hätten alle Yogis, Vidyadharas und Mahasiddhas der Vergangenheit, die Meditation auf der Grundlage der Erkenntnis praktiziert und dabei beherzt Härten auf sich genommen haben, ihre Zeit verschwendet. Im Gegensatz dazu versteh, dass es notwendig ist, sich der essentiellen Praxis des Meditierens auf der Grundlage der Erkenntnis zuzuwenden.
Buddhaschaft ist nicht wertneutral
Die Reduktion des innerlich vorhandenen Grundes auf etwas Wertneutrales ist, als ob der Himmel von Dunkelheit bedeckt ist, während das Grundgewahrsein wie die Dämmerung und das Aufgehen der Sonne ist. Das Nicht-Gewahrsein des Grundes ist, als ob man keine Herrschaft über den gesamten Bereich eines großen Königs hat. Das Identifizieren des manifesten Gewahrseins für einen selbst ist, als ob eine arme Person ohne irgendeinen Status oder Besitz als König inthronisiert wird und königliche Privilegien genießt. Wie eine wohlhabende Person, die von einem König oder Feind eingesperrt ist, die an Auszehrung, Durst, Folter und schrecklicher Umgebung für lange Zeit leidet, so erfährt man endloses Leiden in der zyklischen Existenz aufgrund der Verschleierung durch dualistisches Greifen und des Nicht-Gewahrsein des Grundes, der ursprünglich Großen Vollkommenheit. Das Gewahrsein schließlich zu identifizieren, sodass es manifest wird, ist als ob eine Person aus dem Gefängnis befreit wird, das eigene Haus bewohnt und Glück und Freude genießt. Gewahrsein ist einem wertneutralen Grund weit, weit überlegen.
Hier ist eine Analogie für das Vorhandensein des Grundes als etwas Wertneutrales. Stell dir vor, dass eine Person von einer Krankheit befallen ist und direkt unter ihrem Bett ist eine Medizin, die mit acht Qualitäten versehen ist. Aber da sie das nicht erkennt, wird sie weiter für längere Zeit an ihrer schrecklichen Krankheit leiden. Nach einiger Zeit dann erkennt sie sie als ein heilkräftige Medizin, isst sie und infolge dessen wird ihre Krankheit geheilt und sie erlangt wieder ihre Gesundheit. Genauso sobald man die Seinsweise der Existenz des Grundes erkannt hat, wird das manifeste Gewahrsein als sein eigener Zustand selbst erkannt. Infolge dessen ist das große, chronische Leiden der zyklischen Existenz insgesamt beseitigt und man ist in einen Zustand der ewigen Glückseligkeit gelangt.
Auch wenn jemand Gewahrsein identifiziert hat, das als der Grund vorhanden ist, so gibt es keinen Nutzen, wenn man es nicht praktiziert. Als eine Analogie dazu selbst wenn jemand Gold in der Hand hält, es aber nicht für etwas anderes hilfreiches eintauscht, sondern das Gold als Kopfkissen benutzt, dann wird diese Person an Hunger und Belastung der Elemente sterben. Genauso ist das Reduzieren des Gewahrseins, das identifiziert wurde, auf etwas Wertneutrales diesem gleich. Selbst wenn jemand ein wunscherfüllendes Juwel als das, was es ist, erkennt, so gewährt es keine Siddhis, wenn man es nicht mit Respekt behandelt. Das Gewahrsein, das identifiziert wurde, auf etwas Wertneutrales zu reduzieren, ist genau gleich. Auch wenn jemand schöne, warme Kleidung hat, sie aber nicht trägt, dann wird man an Kälte und Wind sterben. Das Gewahrsein, das identifiziert wurde, auf etwas Wertneutrales zu reduzieren, ist genauso. Selbst wenn jemand in einem Haus lebt, das reich an Nahrung ist, würde dieser an Hunger sterben, wenn er nicht davon ist. Das Gewahrsein, das identifiziert wurde, auf etwas Wertneutrales zu reduzieren, ist genauso. Sei dir dieser entscheidenden Wichtigkeit des Praktizierens bewusst, nachdem man das Wissen und die Erkenntnis erlangt hat.
Getäuscht versus Gewahrsein realisiert
Der Bodhisattva Vidyadhara fragte dann: „Oh Lehrer Bhagavan, so ist es. Gibt es irgendeinen Unterschied zwischen einer getäuschten Person, die das Gewahrsein identifiziert hat und einer, die das nicht hat?“
Er antwortete: „Oh Kind aus guter Familie, es gibt keinen Unterschied zwischen einer Person, die die Route kennt und den falschen Pfad nimmt und einer Person, die die Route nicht kennt und den falschen Pfad nimmt. Es gibt keinen Unterschied zwischen ausgeraubt werden durch einen Feind, den man kennt und ausgeraubt werden durch einen Feind, der ein Fremder ist. Es gibt keinen Unterschied zwischen einer Person, die weiß, wie es ist über eine Klippe zu stürzen und fällt und einer anderen Person, die nicht weiß, wie es ist, und auch fällt. Genauso gibt es nicht den geringsten Unterschied zwischen diesen beiden.“
Vidyavajra fragte dann: „Bhagavan, so ist es. Was ist der Name für das Yana für das Erkennen dieser Realität, die von diesen ganzen ausgezeichneten Qualitäten erfüllt ist? Möge der Lehrer das erklären!“
Er antwortete: „Oh Vidyavajra, die Grund-Sugatagarbha kann nicht verbessert werden, noch kann sie von irgendwelchen schlechten fühlenden Wesen beeinträchtigt werden. Sie ist frei von den acht Extremen der begrifflichen Ausschmückungen, sie ist von den drei Toren der Befreiung erfüllt und sie ist die natürliche Vollkommenheit des ganzen Ausdrucks der Kayas und ursprünglichen Weisheiten. Die Kenntnis dieser Wahrheit und der Gründe dafür bildet die Realisation und das unterscheidet ihre Überlegenheit über andere Yanas. Zu Wissen durch die Methoden anderer Yanas, dass der Grund leer ist, ist ein allgemein geteiltes Feld der Erfahrung, aber dieser Geist des vollkommenen Erwachens ist eine überragendes Merkmal dieses geschwinden Pfades. Das wird der letztendliche Geist des Erwachens oder das höchste Yana der tiefgründig, geheimnisvollen, resultierenden Großen Vollkommenheit genannt.
Aus dem Vajra-Herz-Tantra von Dudjom Lingpa; übersetzt vom Ngak’chang Rangdrol Dorje (Enrico Kosmus, 2017). Möge es nützlich sein!
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