Als ich vor einiger Zeit ein paar Wycliffe-Kollegen nach Buchempfehlungen fragte, nannten gleich mehrere “The Year of Biblical Womanhood” von Rachel Held Evans, die übrigens auch einen beachtenswerten Blog schreibt. – [Bis zum 31. Oktober kann dieses Buch als e-Book für $2.99 erstanden werden, allerdings muss man dafür (jedenfalls bei Amazon) als US- oder Kanada-Kunde registriert sein; hier gibt es eine Anleitung, wie man das legal machen kann. Kindle-Bücher kann man übrigens auch am Computer, Tablet oder Smartphone lesen.]
Wie bin ich auf dieses Buch gestossen? – Weil ich mich ans Motto: “Not every reader is a leader, but every leader is a reader”, frage ich immer mal wieder Leute mit Leitungsverantwortung, was sie so lesen. Und als mir eben gleich mehrere Kollegen dieses Buch empfahlen, dachte ich eben…
Ich selber bezeichne mich als “unkonventionellen Evangelikalen”, und Evans ist das auch (allerdings “auf höherem Niveau”, wie ich zur Klärung neidlos anfügen will). In ihrem Blog greift sie immer wieder kontroverse Themen auf und lädt dazu auch Gastautoren ein, die das Thema von verschiedenen Seiten beleuchten: wie soll man sich die Hölle vorstellen? was gibt es zu Homoxexualität in der Kirche zu sagen? u.ä.
Im genannten Buch berichtet Evans von einem Experiment: Während einem Jahr bemühte sie sich, biblische Mandate für die Frau zu verstehen und umzusetzen. Dabei widmete sie sich Monat für Monat je einem anderen Aspekt, z.B. Güte im Oktober, Gehorsam im Dezember, Schönheit im Januar, Fruchtbarkeit im Mai oder Unterordnung im Juni. Sie berichtet über ihre Entdeckungen und Erlebnisse — mit einer wohltuenden Portion Selbstironie. Aber das Buch ist wesentlich mehr als voyeuristische Unterhaltung. Letztlich geht es um die Frage, wie wir mit biblischen Anweisungen umgehen. Dass Menschen des 21. Jahrhunderts mit einem jahrtausendealten Text ihre Mühe haben, sollte ja eigentlich nicht erstaunen. Erstaunlich ist eher, wie … darf ich sagen: “naiv”? … diese Herausforderung manchmal angegangen wird. Da kann einer ohne weiteres vollmundig behaupten, er nähme sämtliche Gebote Gottes wortwörtlich, und im praktischen Vollzug bleibt davon ein wesentlicher Teil auf der Strecke, ohne dass der Widerspruch erkannt, geschweige denn Rechenschaft abgegeben wird.
Evans empfand das Dilemma recht bald. Sie liess sich ihre Haare wachsen und dann:
I wasn’t sure how to explain to my unsuspecting hairstylist that the reason I hadn’t cut my hair in a year was because two thousand years ago, a Jewish tentmaker wrote a letter to his friends in the city of Corinth in which he mentioned that “if a woman has long hair, it is her glory” (1 Corinthians 11:15).
Ein mehrtausendjähriges Buch kann zuweilen verwirrlich und störrisch sein… Evans: “I have come to regard with some suspicion those who claim that the Bible never troubles them. I can only assume this means they haven’t actually read it.” Oder wenn man sie gelesen hat, dann hat man die biblischen Anweisungen eigenwillig und/oder willkürlich in “heute noch relevant” und “heute nicht mehr relevant” eingeteilt. Da kommt mir Mark Twain in den Sinn, der gesagt haben soll, dass ihn an der Bibel nicht das störe, was er nicht verstehe, sondern das, was er verstehe. Mir selber bereiten die Menschen, die jede biblische Unebenheit wegerklären, mehr Mühe als jene, die schulterzuckend oder kopfschüttelnd keine kluge Antwort herbeireden können.
Wir sind also selektiv bei dem, was wir als relevant anschauen. Und wir sind auch voreingenommen, wenn es um die Interpretation des Textes geht. Die objektive Wahrheit gibt es in unseren Köpfen nicht!
For those who count the Bible as sacred, interpretation is not a matter of whether to pick and choose, but how to pick and choose. We are all selective. We all wrestle with how to interpret and apply the Bible to our lives. We all go to the text looking for something, and we all have a tendency to find it.
Das ist ein ziemlich irritierender und ein ziemlich desillusionierender Befund. – Zwei tröstliche Gedanken:
1. Die Hauptsache der biblischen Botschaft ist ziemlich deutlich gesagt.
2. Wir können uns bewusst machen, welche Färbung die Brille hat, die wir tragen (“Misreading the Bible with Western Eyes” bietet beispielsweise hilfreiche Anregungen).
3. Bis zu einem gewissen Grad können wir wählen, mit welcher Brille wir den Text lesen. – Ein letztes Mal Evans (Anschlusszitat zu oben):
So the question we have to ask ourselves is this: Are we reading with the prejudice of love or are we reading with the prejudices of judgment and power, self-interest and greed?
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