Im Winter hat man häufig das Gefühl, die Welt würde sich langsamer, irgendwie gedämpft bewegen. Der Schnee schluckt den Lärm, Autos bewegen sich langsam und die meisten Menschen bauen sich durch dicke Kleidung in eine eigene kleine Welt ein oder verlassen die Wohnung nur noch selten.
Dieses Gefühl muss wohl auch Benjamin Lebert in der Schaffensphase seines neuen Romans Im Winter dein Herz umgetrieben haben. Der Autor der Romanvorlage von Crazy schafft sich und seinen Lesern eine Winterutopie. Aus dem beschriebenen Gefühl entwickelt er die Idee, dass das ganze Land von Januar bis März in einen kontrollierten Winterschlaf übergeht. Dieser Zustand hat sich weniger aus romantischen mehr jedoch aus ökonomischen Gründen gesellschaftlich durchgesetzt. Nur ein kleiner Teil der Bevölkerung stellt sicher das wichtige beziehungsweise kritische Infrastruktur weiterläuft. Alle anderen schlafen um Kraft zu schöpfen, eine wenig produktive Phasen zu überbrücken und um Energie/Ressourcen zu sparen.
Allerdings gibt es auch durchaus Menschen, die sich bewusst nicht am Winterschlaf beteiligen. Zu ihnen gehört auch Robert, der zusammen mit seinen zwei Bekanntschaften Annina und Kudowski beschlossen hat in diesem Jahr statt des Winterschlafs einen Road Trip in seine Heimatstadt München zu unternehmen um den schwerkranken Vater zu besuchen. Die drei haben sich im Umfeld einer psychiatrischen Klinik bei Göttingen kennengelernt, in der sich sowohl Kudowski als auch Robert aufhalten. Annina arbeitete in der nahegelegenen Autobahnraststätte.
Der Grund für Roberts Klinikaufenthalt ist scheinbar eine Depression. Im ersten Kapitel erzählt er selbst einen Teil seiner Geschichte und nimmt den Leser gedanklich mit in die Klinik. Durch einen Sprung in der Erzählzeit zum nächsten Kapitel und dem Ausbleiben weiterer Rückblenden bleibt der Leser sowohl bei der Hauptfigur als auch bei allen anderen Personen im Unklaren über deren Geschichte und mögliche Motive. Anhand der spärlichen Informationen lässt sich allenfalls herausfinden, dass Robert als Kind wohl eher feinfühlig war und nach eigenem Empfinden die Erwartungen, die an ihn gestellt wurden (vor allem vom Vater) nicht erfüllen konnte. Auch später, in seinem Beruf als Journalist, hat er immer wieder das Gefühl die Anforderungen nicht erfüllen beziehungsweise seinem Anspruch nicht gerecht zu werden. Möglicherweise sind auch dies Gründe für seine depressive Erkrankung, allerdings wird das Thema im Roman, aus Sicht des Rezensenten, nicht angemessen thematisiert.
Eine einzige Szene im Roman schafft es auch den anderen Personen Informationen zu ihrer Person zu entlocken… In Folge des “gesamtgesellschaftlichen” Winterschlafs steht es um die Aufrechterhaltung von Geschäften, Hotels und Tankstellen verhältnismäßig schlecht. Auf ihrem Weg über verschneite Autobahnen und Landstraßen kommen die drei Nicht-Schläfer auch nach einiger Zeit an die Grenzen des Benzinvorrates ihres Geländewagens. Nach erfolgloser Tankstellensuche wird ein Nothalt in einer der wenigen geöffneten Pensionen unausweichlich. Bei warmen Getränken und Speisen werden alle an diesem Abend etwas redseliger als im bisherigen Reiseverlauf. In dieser Situation lassen auch erstmals Annina und Kudowski Fetzen ihrer Vergangenheit durchblicken und geben so nicht nur dem Leser, sondern auch ihren Mitstreitern wenige wirkliche Anhaltspunkte mit wem sie es zu tun haben. Doch bleibt es bei Fetzen, Ausschnitten und zusammenhangslosen Gedanken. An dieser Stelle merkt man sehr deutlich wie wenig die Personen einen Bezug zueinander haben und wie wenig sie diesen auch anstreben. Es ist tragischerweise die einzige Spannung, welche im Buch auftaucht, eine Gemeinschaft, die noch nicht mal im Angesicht der Reisebeschwerlichkeiten zur Zweckgemeinschaft wird. So ist es auch wenig verwunderlich, dass die Reise nach dieser Nacht ohne eine ausführlichere Beschreibung, bis München fortgesetzt wird. In einer scheinbar menschenleeren Stadt wird sie mit dem Besuch des kranken Vaters im Enden. Doch weder Reise, noch Besuch konnten bis dahin dem Leser vermitteln, welche Absichten die Personen und vor allem Robert verfolgen…
Das Buch startet insgesamt mit einer sehr interessanten Grundstimmung. Die Utopie des kollektiven Winterschlafes, der Verlangsamung und der geheimnisvollen Personenkonstellation versprechen eigentlich eine spannende Geschichte. Doch Benjamin Lebert schafft es, nach meinem Dafürhalten, nicht die Geschichte wirklich zu entwickeln. Man kann jetzt vermuten, dass für ihn die Geschichte eines mit sich dauerhaft unzufriedenen Menschen im Mittelpunkt steht. Man kann vermuten, dass das Winterschlafszenario das Innerhalten und über sich nachgrübeln noch unterstützen soll. Aber all das sind reine Vermutungen. Der Hauptdarsteller wird einfach zu sehr im Verborgenen gehalten und die, sicher beabsichtigte, Minimalkomunikation vermittelt zwar dieses Einsamkeitsgefühl der Person, trägt aber nicht zum Verständnis bei. So gelingt Herrn Lebert zwar die Beschreibung der Reise und deren Stimmung aber alles in allem wird keine stimmige Geschichte ausgearbeitet. Auch wenn man ein Freund von literarischer Verknappung und verdichteten Geschichten ist muss man diesem Roman leider unterstellen, dass er zu knapp und irgendwie nicht komplett ist. Ein weniger diffuses Ziel und ein irgendwie gearteter Spannungsbogen hätten den Roman deutlich aufgewertet. So bleibt eigentlich nur zusammenzufassen, dass Benjamin Leberts Roman Im Winter dein Herz eine durchaus interessante Skizze ist, die aber leider aus Mangel an Ausarbeitung schnell ihren Reiz verliert.
Benjamin Lebert
“Im Winter dein Herz”
156 Seiten
Hoffmann und Campe Verlag, 2012 (erscheint am 22.02.)
ISBN: 978-3-455-40360-2