Brumlik vs. Zizek & Badiou // Masse, Kritik und Revolution Teil 1

Der Frankfurter Professor Micha Brumlik erweist sich in der heutigen (6.9. ’11) Ausgabe der taz in seinem Kommentar zur Publikation des Sammelbands des Kongresses „The idea of communism“ einmal mehr als verdienstvolle Stimme der Vernunft gegen den schier allgegenwärtigen Heideggerianomarxismus um so schillernde Gestalten wie den Paulus-Fan Alain Badiou und den Exzentrikclown Slavoj Žižek, der sich ja auch in der popkuntibuntineoneostalinistischen Bloggerszene, die sich mittlerweile rund um Lyzis Welt gescharrt hat, höchster Beliebtheit erfreut.1

In diesem Sammelband kann man, laut Brumlik, u.a. nachlesen, wie sich, ganz auf der Linie von Judith Butlers Hamas-Solidarisierung, Susan Buck-Morss, mit Vorurteile über Walter Benjamin-Fans bestätigend, positiv auf den „Messianismus“ Sayed Qutbs, einem der wichtigsten theoretischem Wegbereiter des aktuellen Islamismus, bezieht. Alain Badiou wird folgendermaßen zitiert:

Also lasst uns nicht zögern [“Also lasst uns nicht zögern“ – Alain Badiou wird seinem Anspruch als Priester(anti-)philosoph wirklich gerecht; TS] zu sagen, dass Cruschtschows Verdammung von Stalins Personenkult ein Fehler war und dass – unter dem Deckmäntelchen der Demokratie – diese Verdammung jenen Niedergang der Idee der Kommunismus einläutete, den wir in der letzten Dekade erlebt haben.

Weiter schreibt Brumlik:

Badiou begründet das damit, dass die anonymen Aktionen von Millionen Militanten im mächtigen Symbol eines Eigennamens zusammengeführt worden seien: „Stalin“.

Diese wahrhaft eines Lyzis würdigen Aussagen mögen für jemanden, der mit Heidegger Wahrheit als unaussprechliches „Ereignis“ denkt und vom Sendungsbewusstsein des Paulus als Vorbild heutiger „Militanter“ schwärmt, plausibel sein.2 Für jemanden, der zumindest einige basale Schritte der Aufklärung mitgegangen ist, ist jedoch jede Form des Personenkults schlichtweg als vormoderndes Relikt abzulehnen: Wir sind alle mit derselben Vernunft ausgestattet, haben ähnliche körperliche Voraussetzungen, werden irgendwann alle sterben etc. – es gibt schlicht keinen vernünftigen Grund, um irgendeine Person irgendeine Art von „Kult“ zu betreiben. „Personenkult“ heißt nichts anderes, als an eine rationale Legitimation von Herrschaft ein religiöses Spektakel, das potentiell alles legitimiert, treten zu lassen. Für jemanden der unter der „Idee des Kommunismus“ eine Art neues Christentum unter der Führung einiger sich als berufen fühlender Paulus-Adepten versteht, ist dies wie gesagt kein Problem. Für jeden, der an einer ernsthaften Emanzipation der Menschheit aus selbstverschuldeter Unmündigkeit interessiert ist, schon.

An Žižek kritisiert Brumlik insbesondere seine Apologie des revolutionären Terrors. So schreibt er etwa:

Dort, wo der Philosoph selbst Verantwortung übernimmt, geht es etwas harmloser zu [im Vergleich zu den Erschießungen, von denen zuvor die Rede war; T.S.]. Zizek erwähnt eine Episode aus der russischen Revolution: 1922 ordnete die Sowjetregierung die gewaltsame Vertreibung von führenden antikommunistischen Intellektuellen an, die schließlich auf einem Schiff nach Deutschland ausgewiesen wurden. In einer Fußnote beeilt sich Zizek, festzustellen: „Um jedes Missverständnis an dieser Stelle zu vermeiden: Ich persönlich halte die Entscheidung, die antibolschewistischen Intellektuellen des Landes zu verweisen, für absolut gerechtfertigt.“ Das sind gute, klare Worte, aus denen freilich nur eines folgt: Wenn all das Kommunismus ist, ist Antikommunismus eine vertretbare, ehrenwerte und vor allem moralisch begründbare Haltung.

Hier freilich wird Brumlik schlecht-moralisch. An der aktiven Bekämpfung konterrevolutionärer Propagandisten ist in einer revolutionären Situation tatsächlich nichts zu kritisierendes, sie ist geradezu notwendig – etwa wenn „Intellektuelle“ gezielt Lügen verbreiten, um der Revolution zu schaden. Geht man freilich nicht davon aus, dass jedwede Kritik an der Revolution konterrevolutionär ist, stellt sich sofort die Frage, was einen zu akzeptierenden Kritiker von einem konterrevolutionären Propagandisten unterscheidet, wer über diese Unterscheidung entscheidet, wie genau die Bekämpfung konterrevolutionärer Propagandisten aussehen könnte. Wie unterscheidet man z.B. eine bewusst gestreute Lüge von einem zufälligen Irrtum?

Ich weiß nicht, wer konkret 1922 des Landes verwiesen wurde. Womöglich waren es tatsächlich konterrevolutionäre Propagandisten, womöglich auch verdienstvolle Revolutionäre, die man mundtot machen wollte ohne sie zu erschießen. Das – sehr ernste – Problem der Unterscheidung von Kritik und Feindpropaganda scheint mir im Sowjetsozialismus recht brachial dadurch gelöst worden zu sein, jede Kritik unter den Verdacht der Feindpropaganda zu stellen. Die Ablehnung von substantieller Kritik wiederum scheint mir gerade eine wesentliche Schwäche des sozialistischen gegenüber dem westlich-demokratischen Herrschaftsmodell zu markieren. 1. Demonstriert das herrschende Regime gerade seine Stärke dadurch, dass es auch radikale Kritik an ihm zulässt oder sogar offen begrüßt und fördert. 2. Ist ein offener kritischer Diskurs nützlich, um eventuelle Schwachstellen im System zu erkennen und zu korrigieren. 3. Wird so eine aktive Partizipation am und damit Integration ins System wesentlich erleichtert.
So hat Hegel als einziger mir bekannter bürgerlicher Philosoph das Wesen der bürgerlichen Demokratie und „Zivilgesellschaft“ erkannt, wenn er in der Grundlinien der Philosophie des Rechts offen ausspricht, dass es in ihr im Wesen nicht darum geht, dass alle über alles de facto entscheiden. Vielmehr soll es darum gehen, dass jeder mal seine Meinung zu einer Entscheidung äußert und so das Gefühl hat, an ihr partizipiert zu haben – wobei die reale Entscheidung selbstverständlich (bei Hegel) vom Monarchen und seinem Beamtenapparat gefällt wird, der wiederum von der engen Tuchfühlung mit dem Volk qua öffentlichem Diskurs profitiert. Dadurch, dass die Leute ihre Kritik in den öffentlichen Diskurs eintragen, werden sie zugleich gezwungen, sich dessen Regeln anzupassen und sich so selbst zu zivilisieren. Echte Selbstverwaltung kann dann immerhin noch auf den unteren Verwaltungsebenen stattfinden, wo die Bürger ohnehin nicht viel falsch machen und Fehlentscheidungen keine nennenswerten Auswirkungen für das Gesamtsystem haben.3
So wird wieder einmal deutlich, dass die Bolschewiki und ihre Freunde Hegel nicht verstanden haben. Ein demokratischer Staat braucht keinen kostspieligen, überdimensionierten Inlandsgeheimdienst, um herauszufinden, was das Volk wirklich denkt. Das erfahren die Politiker jeden Tag beim Blick in die Zeitung.

Damit soll nicht gesagt sein, dass es im Rahmen einer revolutionären Bewegung einen Dualismus von Herrschaft und Volk, den es irgendwie zu vermitteln gälte, geben sollte. Es sollte nur gezeigt werden, dass der revolutionäre Terror gegen Kritik nur unter Vorbehalt zu glorifizieren ist, dass die „Säuberungen“ vielmehr wesentlich zum späteren Scheitern des sozialistischen Experiments beitrugen, da es keine Sphäre mehr gab, in der sich gesellschaftliche Probleme wirklich artikulieren, Integration qua aktiver, kritischer Partizipation stattfinden konnte.
In einer wirklich communistisch-revolutionären Bewegung würde es natürlich keinerlei Vermittlung zwischen Herrschern und Beherrschten bedürfen, da diese tendenziell ohnehin zusammenfallen würden. Dass es diesen Dualismus überhaupt noch gab, im Namen der Trennung von „Partei“ und „Volksmassen“ sogar konstutiver Bestandteil der Staatsideologie war – und dass er viel stärker war als in der bürgerlichen Demokratie – offenbart freilich das fundamentale Scheitern der sozialistischen Experiments. In der „Übergangsphase“ mag freilich, wie gesagt, objektiv die Bekämpfung konterrevolutionärer Agitatoren nötig sein. Am besten natürlich schlicht durch die besseren Argumente.

Diese Überlegungen werfen freilich eine ganz andere Frage auf, nämlich die nach der Rolle des Kritikers in der bürgerlichen Gesellschaft. Macht sich dieser, indem er sich, um überhaupt verständliche Kritik äußern zu können, immer schon zumindest partiell den Regeln des herrschenden Diskurses unterwerfen muss, a priori zum „nützlichen Idioten“? In der Tat mag in manchen Situationen der pöbelhafte Stinkefinger subversiver und auch revolutionärer als das gut ausgearbeitete Argument sein, weil er sich der (ja gerade erwünschten) aktiven Partizipation gerade entzieht. Ein wirklich radikales Argument muss womöglich sie Synthese von Stinkefinger und Vernunft sein.

Zumindest erwächst aus der Notwendigkeit der Kritik für das Funktionieren bürgerlicher Herrschaft auch die durchaus realistische Aussicht, einmal auch im kapitalistischen Sinne für das eigene kritische Schaffen anerkannt – sprich: subsistenzsichernd bezahlt – zu werden. Auch keine schlechte Aussicht. (Die Synthese von Argument und Stinkefinger lässt sich im Rahmen der bürgerlichen Institutionen freilich zugegebenermaßen nur schwer realisieren.)

Im zweiten Teil dieser kleinen Serie werde ich auf Alain Badious Verklärung des stalinistischen Personenkults zurückkommen und meine Kritik daran weiter vertiefen.

  1. Zu Žižek gab es in der Jungen Welt einen recht guten entlarvenden Artikel, der leider nur noch mit online-abo einsehbar ist. Etwas weniger kritisch, dafür aber – wenn man ihn richtig zu lesen versteht – nicht minder entlarvend dieser Artikel aus der taz.[zurück]
  2. An dieser Stelle sei eine in mancherlei Hinsicht recht treffende Kritik an Badious Paulus-Buch von dem Maoisten Scott Harrison verwiesen. Nota bene: Zur Zeit des Verfassens dieses Buches sah sich Badiou selbst als Maoist und war laut wiki „lange einer der führenden Köpfe des französischen Maoismus“.[zurück]
  3. Die hier nur grob dargestellte Demokratietheorie entwickelt Hegel im Wesentlichen im Abschnitt „Die gesetzgebende Gewalt“ (§ 298-320). Ich sollte vielleicht nur noch betonen, dass Hegel keineswegs Antidemokrat im gewöhnlichen Sinne ist. So heißt es etwa im Zusatz zu § 317: „Das Prinzip der modernen Welt [das für Hegel Ausgangspunkt all seiner Überlegungen ist; TS] fordert, daß, was jeder anerkennen soll, sich ihm als Berechtigtes zeige.“ Bloße Selbstbestimmung des Volkes ist jedoch für ihn keine wirkliche Freiheit, sondern gleichebedeutend mit Anarchie. [zurück]

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