Der Physik-Nobelpreisträger Richard Feynman soll einmal sinngemäß gesagt haben: “Die Wissenschaftler brauchen die Wissenschaftstheorie für ihre Arbeit ungefähr so sehr wie die Vögel die Ornithologie zum Fliegen.” Analog denken viele über die Philosophie. Erkenntnisse gewinnt man nach der Ansicht dieser Menschen mit der Alltagserfahrungen sowie ggf. in den Einzelwissenschaften und um ein gelingendes Leben zu führen, muss man bloß moralisch und zweckmäßig handeln, nicht aber über das richtige Handeln nachdenken, denn was das ist, das wisse man ja schon. Erkenntnistheorie, Logik, politische Philosophie und Ethik erscheinen diesen Menschen deshalb überflüssig, abgehoben, abstrakt und lebensfern. Die Philosophie erscheint ihnen als redundantes Epiphänomen.
Tatsächlich lebt die Philosophie ein Schattendasein. An den Schulen kommt sie höchstens als optionaler und amputierter ethischer Diskurs innerhalb der Oberstufe vor. An den Universitäten bildet sie kleine Fachbereiche, die sich insbesondere aufgrund etablierter Studienstrukturen hauptsächlich mit sich selbst beschäftigen.
Die Denkweise, die zu diesem Zustand geführt hat, weist jedoch einen Mangel auf: Die Philosophie ist kein Epiphänomen. Sie ist auch keine isolierte Fachdisziplin. Sie ist grundlegend und wirkt sich aus. Es ist kein Zufall, dass die philosophisch geprägte Antike einen riesigen technologischen Fortschritt mit sich brachte. Moralische Entwicklung des Charakters, die dazu führt, dass aus jeweils fortgeschrittenen moralischen Begründungen als Ursachen heraus gehandelt wird, erfordert nach Kohlberg die rationale Beschäftigung mit Ethik. Sinnvolle politische Systeme setzen voraus, dass sich jene, die diese Systeme bilden, darüber Gedanken machen, was ein sinnvolles politisches System ist. Es ist kein Zufall, dass die politische Philosophie in der tatsächlichen Politik einen riesigen Einfluss hat. Die Fähigkeit, logisch korrekt zu schließen, welche in jeder Fachwissenschaft sowie im demokratischen Diskurs elementar wichtig ist, erhöht sich durch die Beschäftigung mit Logik und Argumentationstheorie. Das Bewusstsein für methodische Probleme wächst mit der Beschäftigung mit Wissenschafstheorie, die unter Masken wie “Methodologie” und “Statistik” längst – wenn auch eingeschränkt – in den Einzel-Wissenschaften gelehrt wird.
Die Philosophie allein mag uns nicht sagen können, wie schnell sich ein bestimmter Körper zu Zeitpunkt t an Ort s bewegt, aber sie entwickelt notwendige Grundkompetenzen, die dazu führen, wie man eventuell herausfinden kann, wie schnell sich ein bestimmter Körper zu Zeipunkt t an Ort s bewegt.
Es mag sein, dass die Philosophie auf einem fortgeschrittenem Stadium wie der Arbeit von höchstqualifizierten Fachwissenschaftlern kaum Effekte hat, doch um dieses Stadium erreichen zu können, muss man durch elementare Gedanken aus den Bereichen Logik, Wissenschaftstheorie etc. bereits hindurch gegangen sein. Höchstqualifizierte Fachwissenschaftler mögen von weiterer Beschäftigung mit Philosophie wenig profitieren können, aber nur, weil sie philosophiert haben und gerade jene, die sich mit Philosophie noch nicht oder nur wenig auseinandergesetzt haben, würden profitieren. Das mag dann nicht als Philosophie erscheinen, sondern als rationales Denken, ist aber nichts anderes als Philosophie, weil die gute Methodik von der schlechten sowie die guten Argumenten von den schlechten abgesondert werden. Die Philosophie strebt nach Wahrheit und fragt, wie wir sie finden. Und selbst wenn sie dabei selten zu einwandfreien methodologischen Ergebnissen kommt, verwirft sie zumindest jene Wege, die gänzlich untauglich sind. Die Frage nach Wahrheit ist wichtig, denn wer in Wissenschaft, politischen Diskussionen und seinem Handeln untaugliche Mittel wählt, weil er an unwahren oder schlecht begründeten Überzeugungssystemen hängt, wird sein Ziel nicht erreichen können. Philosophie vermittelt ähnlich wie Mathematik und der Unterricht in Sprachen eine Grundkompetenz, die notwendig ist, um die Vernunft zu gebrauchen, die dem Menschen die Möglichkeit bietet, sein technisches und ethisch-politisches Schaffen zu perfektionieren. Auch eine Demokratie kann nur dann wirklich funktionieren, wenn sie aus autonomen Menschen konstituiert wird, die ausreichend informiert sind, um in ihrem eigenen Sinne rational zu entscheiden. Demokratie braucht Menschen, die für sich entscheiden können.
Aus diesem Grund ist zu fordern, dass Philosophie und insbesondere auch theoretische Philosophie an weiterführenden Schulen eine größere Rolle spielt, sobald die Schülerinnen und Schüler die kognitiven Fähigkeiten erworben haben, die notwendig sind, um Philosophie zu betreiben. Es wäre beispielsweise möglich, Logik und Argumentationstheorie in der Oberstufe zu unterrichten. Die Beschränkung auf eine Alternative zu Religion als “Ethik” wird der Möglichkeit, die Philosophie bietet, zumindest nicht gerecht. Jemand, der sich mit Logik und Erkenntnistheorie auskennt, kann kritisch denken, er wird nicht blind einer Ideologie oder einer fanatischen Religion folgen, weil er gelernt hat, was es heißt, die Worte anderer zu hinterfragen. Ihm muss religiöser Fanatismus arbiträr erscheinen. Außerdem wird er, so er Wissenschaftler wird, ein kritisches Verhältnis zu kruden Methoden entwickelt haben und so eher befähigt sein, wissenschaftlichen Fortschritt zu Tage zu fördern. Die desolaten Verhältnisse in medialen Diskursfeldern und manchen wissenschaftlichen Disziplinen zeigen, dass Philosophie insbesondere auf schulischem Niveau nötig ist. Die Philosophie ist als eine Metadisziplin, die positiven Einfluss auf die Fachdisziplinen hat, ebenso grundlegend wie der Unterricht in Mathematik und Sprache, der seinerseits Konzepte vermittelt, die in (fast) jeder Fachdisziplin erforderlich sind.