Brexit-Chaos: Kehrt der Krieg zurück?

Es lohnt nicht, sich inhaltlich mit dem sogenannten Plan B für den Brexit zu befassen, den Theresa May gestern dem Parlament in London vorstellte. Die Abgeordneten hatten bestimmt, dass sie drei Sitzungstage nach ihrer ersten Niederlage mit einem neuen Plan aufwarten musste, und dieser Plan enthält tatsächlich keine neuen Ideen. Es ist im Wesentlichen der alte Plan,garniert mit einigen Versprechen, die bewusst sehr vage gehalten sind. Die Premierministerin wird wissen, dass sie damit niemanden überzeugen kann, aber sie hat keine Wahl.

Ein Plan, der für Nordirland eine Sonderregelung enthält oder dafür sorgt, dass ganz Großbritannien in der EU-Zollunion verbleibt, würde unweigerlich von den harten Brexiteers abgeschmettert werden, und die EU würde keinen Austrittsplan mittragen, der eine harte Grenze zwischen Irland und Nordirland enthält. Ein Hoch auf diese EU, die so oft gescholten wird. Ich bin kein Freund ihrer Wirtschaftsverfassung und schon gar nicht ihrer neoliberalen Ausrichtung. Ich war auch kein Befürworter des Friedensnobelpreises, den sie vor einigen Jahren erhielt, aber die Preisbegründung enthielt einen im wesentlichen richtigen Punkt: Die EU hatte einen europäischen Raum geschaffen, in dem jetzt seit fast 70 Jahren Frieden herrscht. Denn Streitigkeiten zwischen den Mitgliedern können nur durch Kompromisse gelöst werden, man ist aufeinander angewiesen. Das macht das Instrument schwerfällig und träge, aber es zwingt zur Auseinandersetzung und letztlich zur Einigung. Diesem Friedensgebot dient auch die Weigerung des Staatenbundes, einen Brexit zu akzeptieren, der eine feste Grenze zwischen Irland und Nordirland etabliert. Die britischen Hardliner hingegen haben nur ein Ziel: Großbritannien soll frei sein, mit anderen Ländern Freihandelsabkommen zu schließen, soll sich nicht mehr an gemeinsame Regeln gebunden fühlen müssen, soll so vielleicht wieder eine wirtschaftliche Großmacht werden. Der Wahlspruch dieser Leute lautet: “Make Britain great again.” Sie wollen nicht begreifen, dass diese Zeiten für das vereinigte Königreich endgültig vorbei sind, und sie wollen die fest geschlossene Grenze auch auf der irischen Insel, um ihre Wettbewerbsvorteile zu sichern. Dabei ist ihnen egal, was aus dem Frieden in Irland wird. Sie kennen kein Fingerspitzengefühl, keinen Kompromiss.

Das irische Problem ist alt und kompliziert. Aus irischer Sicht ist die Geschichte ihres Landes eine Geschichte der Unterdrückung durch England und des Kampfes des irischen Volkes gegen diese Gewaltherrschaft. Für die Iren, die sich als Iren fühlen, ist Nordirland ein Teil Irlands. Vor 21 Jahren waren sie aber zu einem Kompromiss bereit: Nordirland sollte weiterhin zu Großbritannien gehören, weil eine Mehrheit der dortigen Bevölkerung es so wollte. Diese Bevölkerung war in den letzten Jahrhunderten von England aus eingewandert, um die Iren zu verdrängen und die Bevölkerungsmehrheit zu stellen. Als Gegenleistung verpflichtete sich Großbritannien nun dazu, die Grenze zwischen Irland und Nordirland so weit aufzuweichen, dass sie für die Bevölkerung praktisch nicht spürbar war. Dieses Karfreitagsabkommen aus dem Jahr 1998 funktionierte im großen und ganzen gut. Das war auch und gerade deshalb möglich, weil beide Länder Mitglieder der EU sind und es deshalb keiner Zollgrenzen bedarf. Das alles ändert sich am 29. März, wenn Großbritannien die EU verlässt. Dann spüren die Iren, die meistens katholisch sind, weswegen man von einem Konflikt zwischen Katholiken und Protestanten spricht, bei dem die Religion oft zur Anheizung der Spannungen verwendet wurde, wieder die Grenze in ihrem Land wie eine Wunde im eigenen Fleisch. Aus ihrer Sicht setzt sich die Unterdrückung dann fort, wie sie es immer schon nach kurzen Phasen der Entspannung tat.

Dies alles müssten die Brexit-Befürworter bedenken. Sie müssten aufhören, nur auf ihren wirtschaftlichen Vorteil zu sehen, der übrigens keinesfalls sicher ist, eher im Gegenteil. Ohne die EU verliert das Inselreich viele billige Ressourcen und absatzmärkte, und Freihandelsabkommen will man in London vor allem mit Staaten schließen, die ebenfalls nur auf ihren eigenen Vorteil bedacht sind, dem Trumpschen Amerika vor allem. Vielleicht begreifen das die britischen Hardliner sogar inzwischen, aber die würden nie zugeben, mit dem Referendum und dem britischen EU-Austritt einen Fehler gemacht zu haben. Sie haben Angst, das Gesicht vor der eigenen Bevölkerung zu verlieren.

In dieser Klemme steckt die britische Regierung nach der Ablehnung ihres Brexit-Deals, der die schlimmsten Folgen abfedern sollte. Die Reaktion ließ genau 4 Tage auf sich warten, selbst ich, der ich als Pessimist bekannt bin, habe mit einem längeren vorlauf gerechnet. Während ich am letzten Samstag den Ballroom moderierte, verbreiteten die Ticker die Nachricht von einer Autobombenexplosion in Nordirlands zweitgrößter Stadt Londonderry. Es war die erste seit 2005, seit die IRA, die für eine Wiedervereinigung Nordirlands mit Irland kämpfte, der Gewalt abgeschworen hat. Gott sei dank wurde niemand verletzt, aber es wurde schnell deutlich, dass dieser Anschlag auf das Konto der sogenannten neuen IRA ging, einer kleinen, radikalen Splittergruppe, die den Gewaltverzicht ablehnt, sich aber bislang still verhielt. Jetzt kehrt wohl die Grenze in Nordirland zurück, und damit auch der Krieg. Kurzfristige Profitinteressen einer Minderheit rechter Hardliner haben das in Jahrzehnten mühsam aufgebaute zarte Vertrauen zu zerstören begonnen, das für einen Frieden auf der irischen Insel so unbedingt erforderlich ist. Denn wenn die Grenze erst einmal spürbar ist, wenn Nordiren und Iren an einer Zollstation am Rand ihres Dorfes anstehen müssen, weil sie nur mal eben den Sohn, die Tochter, die Schwester oder den Bruder im Nachbardorf besuchen wollen, dann wird es den dortigen Hardlinern leicht fallen, den Unmut anzustacheln, die Menschen an die Schikane und Unterdrückung zu erinnern, und an die Versprechen, dass sich jetzt alles ändern werde. Sie werden kein Problem damit haben, dies alles als Farce und Lüge zu bezeichnen, und die Menschen, denen bislang nur der eigene Wohlstand wichtig und die unsichtbare Grenze zunehmend unwichtig war, werden sich erinnern. Und sie werden wieder glauben und belegen können, dass ihre Geschichte eine Geschichte der Unterdrückung ist. Einzige Möglichkeit ist der unbeugsame Kampf gegen diese Unterdrückung. Der Automatismus ist noch nicht abgeschaltet.

Dies alles ist den Brexit-Hardlinern egal. Die britische Regierung verspricht zwar, das Abkommen über Nordirland nicht antasten zu wollen, verspricht also praktisch das Fortbestehen der unsichtbaren Grenze, weiß aber noch nicht, wie sie das erreichen soll. Schon deshalb gibt es für Theresa May keine Alternative zu ihrem abgeschmetterten Deal, und deshalb will sie unbedingt erreichen, dass sie diesen Deal auch gegen den Willen des Parlamentes durchsetzen kann. Diese Möglichkeit haben die Abgeordneten und die Gerichte ihr genommen.

Viele Beobachter sagen, Theresa May höre nicht zu und verweigere jede konstruktive Lösung. Ich sehe das teilweise anders. Sie hat versucht, konstruktive Lösungen auszuhandeln, wurde aber von ihren eigenen Leuten gestoppt. Jetzt hat sie praktisch keinen Spielraum mehr und muss zusehen, wie sich vor ihren Augen die irische Katastrophe entfaltet.

Die Geschichte der EU ist eine Geschichte der Zusammenarbeit und des Versuchs, nationale Egoismen zu bändigen. Dies ging oft auf Kosten sozialer Gerechtigkeit und politischer Mitsprache des Volkes vor sich, keine Frage. Trotzdem war die EU so lange in vielen Punkten erfolgreich, wie der populistische Nationalismus nicht in vielen Ländern die Oberhand gewann. Spätestens seit der Weigerung vieler Staaten, Flüchtlinge aufzunehmen, und vor allem seit der Brexit-Abstimmung im Juni 2016 hat sich das gründlich geändert. Die EU verliert an Einfluss und Strahlkraft. Die Rückkehr des Krieges scheint möglich, vorerst als Bürgerkrieg auf der irischen Insel.

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