brennende Kathedrale

 

Die Kerze lag umgekippt auf dem Tisch. Ich rieb mir die Augen. Ein Tag war verstrichen. Nun war Dienstag. Und es war noch immer grau, nass und kalt. Der Regenbogen war nur ein lächerlicher Trost.

Wir gingen letztlich doch los, als der Regen nachließ, kurz nach Mittag. Im Supermarkt kauften wir noch frische Milch, Äpfel und ein Stück Salami ein.

Bizarr wirkten sie schon, die bunten Bäume und Sträucher – in diesem kühlen herbstlichen Grau. Einige Bäume trugen noch immer ihr Sommerkleid. Mein Inneres zitterte wie Geäst im Wind. Ich ärgerte mich. Denn die Berge waren wie nie da gewesen. Und wegen den Bergen war ich hier, wegen Fitz Roy und dem Cerro Torre. Mein Blick folgte Achsa’s Schritten, über schlammige Erde, verletzte Wurzeln, Gestein und Feuchtwiesen. Unsere Gespräche waren wortreich, aber farblos, vom Unmut verfärbt. Am ersten Aussichtspunkt konnte man den Cerro Standhard erkennen. Der Cerro Torre, samt seinen kleineren Brüdern selbst, verschwand im Grau. Aber wir schöpften Hoffnung, denn der Wind trieb die Wolken ostwärts. Am frühen Abend erreichten wir unseren Campingplatz. Wir errichteten unsere Zelte und schichteten einen Wall aus Baumstämmen sowie Steinen auf. Noch war es hell. Wir beschlossen zur Laguna Torre zu wandern. Ein türkisfarbener Gletscher tunkte seine Zunge ins stille graugrüne Wasser. Eisschollen, groß wie Sehnsüchte, trieben schmelzend ans Ufer. Auf dem Grat der Lagune wanderten wir westwärts. Es zog zu, es begann zu schneien.

Zu Abend kochten wir Maissuppe, dann Nudeln und Gemüse. Es wurde warm, endlich. Für wie selbstverständlich nehmen wir Wärme und Licht wahr, wie leichtfüßig folgen wir Straßen und Kanälen … Wie schwer dagegen ist es, in der Natur ein Feuer zu entfachen, an dem man sich aufwärmen und eine Suppe kochen kann. Wie schwer ist es, sich einen Weg durch eine Landschaft zu bahnen, in der alles und nichts ein Weg ist. Der Mensch folgt lieber, als dass er vorweg geht. Nicht jeder. Aber fast jeder. Und wann immer ich in der Natur bin, denke ich über den Begriff ›Arbeit‹ nach, und die Lösung für all unsere dümmlichen Zivilisationskrankheiten erscheint so nahe, so einfach. Der Mensch braucht nicht viel zum Leben – und doch ist dieses ›nicht viel‹ einem Gros der Menschen zu viel … Die Kälte in der Nacht lies mich kaum schlafen, Wind drang überall durch. Ein Scharren und Umherschleichen beunruhigte mich: Ich hatte vergessen, die Lebensmittel außerhalb meines Zeltes zu bewahren. Unser Zeltnachbarn berichteten später von einer Ratte in ihrem Zelt.

Der nächste Tag begann deprimierend: Es war noch kälter geworden. Die Sonne wirkte wie hinter Milchglas: Fahl, schwach. Sie wärmte nicht. Hoffnungsloser Himmel. Das war ein Himmel der bleibt, der lange bleibt. Ein Himmel, der sich festsetzt, wie ein Parasit und dir dein Lachen, dein Frohmut aussaugt, bis auch dein Gesicht einem Winter ähnelt: Unsere Gespräche drehten sich um das Thema, was wir tun würden, als der letzte Mensch auf Erden … Wir durchstreiften Wälder, die an Schlachtfelder erinnerten. Ein einsamer Vogel piepte. Und, als wir endlich den Wald hinter uns ließen, die Lagunen ›Mutter‹ und ›Tochter‹ passierten, öffnete sich der Himmel. Wir konnten das kaum glauben: Der Linke Gipfel des Fitz Roy zeigte sich. Es fiel mir schwer dem Pfad zu folgen. Immer wieder trat ich in Pfützen, Gestrüpp, stolperte über Baumstümpfe und Gräben. Der Berg lenkte meinen Blick ab. Und am Campingplatz schließlich zeigte sich seine ganze Pracht. Nein, man grüßte Vorbeikommende nicht mehr, man sah sie nicht mehr. Jeder schaute hoch, sichtlich erfüllt von diesem Anblick.

Kaum war die letzte Schnur unserer Zelte festgezurrt, stiegen wir zur Laguna de los Tres auf. Mit jedem Höhenmeter wurde die Luft kühler, der Schnee dichter und dichter, bis wir auf Eis traten. Immer wieder schauten wir uns um, denn das, was wir sahen, wirkte wie ein Gemälde. Oben angekommen konnte ich meinen Augen kaum glauben. Nie habe ich etwas Schöneres gesehen. Die einstigen Einwohner gaben dem Fitz Roy den Namen el Chaltén, was übersetzt ›rauchender Berg‹ heißt: Um den Gipfel nämlich schweben immer Wolken. Mir kamen sofort die Worte ›brennende Kathedrale‹ in den Sinn. Hier verbrannte der Glauben, der Glaube an all unsere irdischen Hirngespinste. Wie ein Fanal brannte er. Und er wird immer brennen, während Chile und Argentinien, sich noch in Tausend Jahren die leeren Köpfe einschlagen werden, weil noch immer nicht klar sein wird, wo Chile beginnt und Argentinien aufhört und wo Argentinien beginnt und Chile aufhört. Dieser Berg ist ›unmöglich‹: Er gehört dem Wind, dem ewigen Eis, den Kondoren und den Pumas, dem Licht und dem Schatten, seinen Brüdern – den Bergen, und seinen Schwerstern – den Lagunen. Er gehört jedem aber Niemandem. Was ist der Mensch?

Obwohl wir beide an diesem Tag sehr viel gelaufen waren, schliefen wir schlecht. Am frühen Morgen schüttelte mich die Kälte wach. Achsa ging irgendwann pissen. Ich schlummerte. Plötzlich rief sie meinen Namen: Der Fitz Roy leuchtete in der aufgehenden Sonne. Dort standen wir dann da, wie Katholiken beim Choral, mit einem Japaner, der zum zweiten Mal in diesem Park war, denn nach dem ersten Besuch hatte man ihm seine Kamera geklaut. Der Tag versprach viel: Der Himmel war blau. Endlich, welch Glück. Ich war völlig außer Rand und Band. Wir vereinbarten uns zu trennen. Denn Achsa wollte eine weitere Lagune besuchen. Ich wollte zurück. Zurück zum Cerro Torre – den vielleicht schönsten Berg auf diesem Planeten. Vom Campingplatz zur Weggabelung, die zur Laguna Torre führt, benötigt man in der Regel drei Stunden. Ich erreichte sie in der Hälfte der Zeit. Die Aussicht den Cerro Torre zu sehen, war stärker als Kaffee, Alkohol, Kokain und Sex. Abschnittsweise rannte ich. Mein Knie dankte mir am Abend. An der Weggabelung aber, war ich doch enttäuscht: Obwohl der Himmel strahlend blau war, waren die Gipfel von weißen dichten Wolken umgeben. Nein, es gehört eine Menge Geduld und Glück dazu, den Cerro Torre in seiner Gesamtheit zu bewundern, sagten Leute und Bücher mir.

Den Abend begossen wir trotzdem feierlich mit Borgoña und Malbec. Doch … glücklich waren wir doch noch geworden.

Am nächsten morgen wollten wir weiter südwärts, per Anhalter nach El Calafate. Ich stand bereits draußen und wartete auf Achsa. Ich rief ihren Namen. Am Himmel war nicht eine Wolke zu sehen. Von El Chaltén aus, konnte man nun alle Gipfel auf einmal sehen.

 


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