Dietreich Bonhoeffer erfreut sich ja unglaublich grosser Beliebtheit und wird allseits als Autorität in Theologie und (gelebter) Ethik anerkannt – zu Recht, wie ich meine.
Soeben habe ich wieder einmal sein kleines Büchlein “Gemeinsames Leben” gelesen und dabei Hilfreiches und Erstaunliches zum Thema Bibellesen entdeckt. In den zwei Kapiteln “Der gemeinsame Tag” und “Der einsame Tag” rät Bonhoeffer zu einem differenzierten Umgang mit Gottes Wort:
In der täglichen gemeinsamen Andacht sollen drei Elemente einen festen Platz einnehmen: Das Wort der Schrift, das Lied der Kirche und das Gebet der Gemeinschaft.
Beim Wort der Schrift räumt Bonhoeffer den Psalmen einen besonderen Stellenwert ein. Die Psalmen sind für Bonhoeffer “die grosse Schule des Betens”. Besonders an denjenigen Psalmen, die zu beten uns zunächst schwerfällt (z.B. Rachepsalmen), wird uns deutlich, dass nicht wir hier beten, sondern letztlich Christus selber. Im Gebet geht es “nicht um das einmalige, not- oder freudvolle Ausschütten des Menschenherzes…, sondern um das ununterbrochene, stetige Lernen, sich Aneignen, dem Gedächtnis Einprägen des Willens Gottes in Jesus Christus.”
Bei der gemeinschaftlichen Schriftlesung empfiehlt Bonhoeffer “eine längere alt- und neutestamentliche Lektion”: “morgens und abends je ein Kapitel aus dem Alten Testament und mindestens je ein halbes Kapitel aus dem Neuen Testament” – also täglich drei Kapitel. Bonhoeffer weiss sehr wohl, dass dies im Grunde zu viel ist, denn es werde hier “sichtbar, dass das Schriftganze und daher auch jedes Schriftwort unser Verstehen weit übersteigt, und es kann ja nur gut sein, wenn wir täglich an diese Tatsache erinnert werden, die uns ihrerseits wieder auf Jesus Christus selbst verweist, in dem ‘alle Schätze der Weisheit verborgen liegen’ (Kol 2,3)”. – Hier muss natürlich auch bedacht werden, dass Bonhoeffer für eine geistliche Kommunität geschrieben hat, die dem gemeinsamen Leben naturgemäss einen höheren Stellenwert einräumen kann als andere Formen des gemeinsamen Unterwegsseins.
Es bleibt aber am Wert des Lesens in den grösseren Zusammenhängen (“lectio continua”) festzuhalten (s. auch meine Ausführungen zum Bibelmarathon). Diese Art von Bibellektüre hat zur Folge, dass wir “aus unserer Existenz herausgerissen und mitten hineinversetzt [werden] in die heilige Geschichte Gottes auf Erden. Dort hat Gott an uns gehandelt, und dort handelt er noch heute an uns (…). Nicht dass Gott der Zuschauer und Teilnehmer unseres heutigen Lebens ist, sondern dass wir die andächtigen Zuhörer und Teilnehmer an Gottes Handeln in der heiligen Geschichte, an der Geschichte des Christus auf Erden sind, ist wichtig, und nur sofern wir dort dabei sind, ist Gott auch heute bei uns. (…) Es ist in der Tat wichtiger für uns zu wissen, was Gott an Israel, was er an seinem Sohn Jesus Christus tat, als zu erforschen, was Gott heute mit mir vorhat. (…) Unser Heil ist ‘ausserhalb unser selbst’ (extra nos), nicht in meiner Lebensgeschichte, sondern allein in der Geschichte Jesu Christi finde ich es.”
…und spätestens hier frage ich mich, wie es kommen kann, dass Bonhoeffer von (scheinbar) allen so verehrt wird… Ehrlicherweise muss ich mich fragen, ob ich selber Bonehoeffers Aussagen in der Tiefe verstehe…
(In den nächsten Tagen folgt ein Artikel zu Bonhoeffers “Einsamem Tag”).
Foto: mike-meurer.blogspot.com