Touristen, Anwohner, Einwanderer und die Polizei sind ge- und überfordert, verzweifelt und manchmal auch genervt!
Syrische Flüchtlinge an der Ägäis haben nur ein Ziel: Europa!
Warum, erfahren Sie in meiner Reportage «Mission am Rande der Legalität und des täglichen Wahnsinns»!
Bodrum an der Ägäis – das Jet-Set der Schönen und Reichen wie der Tochter von Rolling Stones-Legende Mick Jagger, Jade Jagger, der türkische Millionär Suleyman Demir und dem Top-Fotomodel Naomi Campel, sorgte für traurige Schlagzeilen am 3. September. Am frühen Morgen bergte die Wasserpolizei den Leichnam des 3-jährigen syrischen Flüchtlingsjungen Aydan Kurti. Das Bild ging um die Welt und wurde zum traurigen Mahnmal syrischer Flüchtlingspolitik in Europa. Seit dem sterben weiterhin Syrier auf ihrer Flucht über die Ägäis. Erst am Freitag ertranken eine Mutter, ein Kind und ein Baby als ihr Boot vor der griechischen Insel Lesbos kenterte.
„Sind Sie für diese Flüchtlinge verantwortlich?”, faucht mich eine Dame im knappen Bikini unvermittelt auf der Strandpromenade in Bodrum-Turgutreis an. Ich frage höflich: „Was meinen Sie bitte?”
In schrillen Tönen keift die Frau mittleren Alters weiter: „Sie bringen denen Hilfsgüter. Zwei Transportladungen. Die sollen hier verschwinden. Haben Sie diese Flüchtlinge in diesem Haus untergebracht?”, dabei dreht sie sich zur Strasse und zeigt mit dem Finger auf ein baufälliges Haus ohne Fenster. Der Putz fällt von den Wänden. Die meisten Türen fehlen. Keine Toiletten. Kein fliessend Wasser. Auf einer Wäscheleine hängen Decken zum Trocknen.
„Das ist eine Zumutung. Wir leben hier. Wir haben doch nicht 30 Jahre lang in Deutschland gearbeitet, um uns in unserer Heimat ein Haus zu kaufen und um uns jetzt von diesem Pack belästigen zu lassen, die sich plötzlich als unsere Nachbarn präsentieren! Schauen Sie doch mal wie die hausen. Die verrichten ihre Notdurft am Strand und in unseren Gärten. Dieser Gestank. Dieser Dreck. Das ist alles nicht mehr zum Aushalten.”
Mit ruhiger Stimme antworte ich der Frau: „Verzeihen Sie bitte, aber Ihr Verhalten als Muslime befremdet mich gerade. Diese Hilfsorganisation wird durch Türken, Einwanderern und weltweiten Touristen gleichermassen unterstützt. Anstatt sich aufzuregen, fragen Sie doch wie Sie helfen könnten, damit dieses Problem gelöst wird.”
Jetzt schreit mich die unbekannte Frau hysterisch an: „Meine Religion tut hier nichts zur Sache. Ich frage Sie ein letztes Mal: Haben Sie diese Syrier hier her geholt? Wie heissen Sie? Ich rufe jetzt die Polizei.”
«Hilfsorganisation Care Packages for Syrian Refugees» Volontär Mehmet rettet mich aus der eskalierenden Situation mit der zeternden Türkin, die viel Wert darauf legt, dass sie das Gymnasium besucht hat und in Deutschland einen wichtigen Job inne hatte: „JayJay, kannst Du der jungen Mutter Calda bitte erklären, wo sie die Baby-Windeln entsorgen kann?”
Übliche Abfalleimer sind in Bodrum wie überall in der Türkei aufgrund der vergangenen Terroranschläge verboten. Hier gibt es vor allem Container, die täglich von der Müllabfuhr geleert werden. Ich mache mir eine Notiz: Grosse Plastiksäcke. Später werde ich der Initiatorin Ayça Kubat der Care Packages for Syrian Refugees empfehlen, dass wir alle Syrier dringend vermitteln sollten, sämtlichen Müll in Plastiksäcken zu sammeln und in den Müllcontainer zu entsorgen, damit die Anwohner nicht die Barrikaden hoch gehen und die Polizei rufen, denn kommt die Polizei erst einmal, werden alle Flüchtlinge sehr ruppig in einen Bus verfrachtet und aus Bodrum verbannt. Meistens werden sie dann nach Izmir, Muğla, Kusadasi oder Istanbul gefahren.
Der tägliche Kampf helfen zu dürfen!
Wir sind in Bodrum Turgutreis direkt an der Strandpromenade. Feine Hotels reihen sich hier aneinander mit Blick auf den D-Marin Yachthafen mit seinen millionenschweren Motor- und Segelyachten. Touristen, die im Meer schwimmen oder in einem der zahlreichen Restaurants und Cafés sitzen und das angenehme Herbst-Wetter bei 28 Grad Celsius geniessen.
Unmittelbar vor unser Care Packages-Anlieferng in Turgutreis, packten acht Volontäre in Bodrum Ortakent im «Oyder Haus» mehrere Kisten und Kartons mit Lebensmittel, Milch, Wasser, Babybrei, Windeln, Pflegeprodukte wie Duschgel, Zahnpasta, Zahnbürsten und Bekleidung zusammen. Das Haus wurde der Hilfsorganisation von Mahmut Koçadon zur Verfügung gestellt. Nein. Nicht offiziell. Inoffiziell. Alles was wir hier rund um die Flüchtlingshilfe leisten ist geheim und es wird nur begrenzt geduldet unter Androhung von Auflösung der Organisation und Verhaftung einzelner. Auch die Facebook-Seite der Hilfsorganisation ist geheim. Doch mehr als 3796 Mitglieder weltweit unterstützen diese Organisation, die von der Web-Designerin Ayça Kubat (32) im Mai 2015 ins Leben gerufen wurde.
Ist das syrische Flüchtlingshaus illegal?
Familienoberhaupt Hüseyin (77) erklärt mir: „Nein, nein, wir wohnen hier nicht illegal. Ich bin mit meinen Söhnen, Schwiegertöchtern und Enkeln vor den Bomben in Aleppo vor sechs Monaten geflohen. Wir sind Bauern und Händler. Als die Bomben unsere Häuser trafen, entschieden wir uns zu fliehen. Beide Schwiegertöchter waren zu diesem Zeitpunkt hochschwanger. Wir sind mit dem Auto über Gaziantep, Osmaniye, Adana in das rund 1200 Kilometer entfernte Istanbul geflohen. Wir waren mehr als eine Woche unterwegs. Auf dem Taksimplatz lernten wir einen Mann aus Bodrum kennen. Er versprach uns Arbeit. Da sind wir ihm gefolgt. Meine Söhne sollten Feld- und Gartenarbeit für den Mann in Bodrum verrichten. Dafür sollte jeder meiner Söhne monatlich 800 TL (ca. 280 €, d. Red.) verdienen. Der Arbeitgeber hat uns so gar geholfen, dass wir uns bei der Polizei im Marina Hafen Bodrums anmelden konnten, denn wer angemeldet ist darf auch arbeiten.”
Mit diesem Hilfsausweis bekommt jeder syrische Flüchtling einmal im Monat pro Person 35 TL.
Stolz zeigt mir Hüseyin die Flüchtlingsausweise. Dann fährt das Familienoberhaupt fort: „Aufgrund der Zusage des Arbeitgebers, mieteten wir eine Wohnung für 800 TL im Monat. Doch der Arbeitgeber zwei Monate lang die Löhne nicht. So konnten wir die Miete nicht bezahlen. Der Hauseigentümer setzte uns auf die Strasse. Da hat uns der Arbeitgeber, der uns aus Istanbul hier her gebracht hat, sein leerstehendes Hotel zur Verfügung gestellt, damit meine Söhne weiterhin für ihn arbeiten. Doch wie sollen wir ohne Toiletten und ohne fliessend Wasser hier leben? Wir haben Babys, die versorgt werden müssen. Im Meer dürfen wir uns tagsüber nicht mehr reinigen. Das hat uns Zabita (Ordnungspolizei, die Redaktion) unter Androhung von Ordnungsgeld verboten um die Touristen nicht zu verärgern. Öffentliche Wasserbrunnen gibt es in Bodrum nicht. Erst nachts, wenn alle schlafen, reinigen wir uns im Meer. Jetzt sitzen wir jeden Tag auf dem Asphalt vor diesem Haus und betteln um ein paar türkische Lira. „So bald wir genug Benzin-Geld zusammen haben, wollen wir wieder nach Syrien zurück. Nein, Kos kommt für uns nicht in Frage. Das Geld für eine Überfahrt bekommen wir nie zusammen. Sie verlangen 1000 € pro Person von uns. Ausserdem ist das viel zu gefährlich. Das Schicksal von Aylan Kurdi, seinem Bruder und seiner Mutter, möchte ich meiner Familie ersparen. Wir haben mehr als genug durch gemacht und verloren.”
“Warum schickt ihr die Kinder nicht in die Schule?, frage ich das Familienoberhaupt. Der alte Mann lächelt müde und sagt: „Unsere Frauen waren mit den Kindern in den Schulen, doch in Turgutreis gibt es kein Platz mehr für syrische Flüchtlingskinder. Uns wurde gesagt, das jede einzelne Klasse bereits bis zu 48 Schüler zählt. Es gibt nicht genug Klassenräume und Lehrer. Wir sollen nächstes Jahr wiederkommen.”
«Unsere türkischen Nachbarn sind hilfsbereit, trotzdem stören wir!»
Die meisten syrischen Flüchtlinge halten sich im Zentrum Bodrums auf dem Platz des Otoparks (Busparkplatz) auf. Hier werden sie geduldet. Hier dürfen sie nachts auf dem feuchten Asphalt schlafen. Doch bereits um 5.00 Uhr morgens müssen sie den Platz räumen, da dann der Busbetrieb beginnt. Hier befindet sich der grosse Bazar, der von Einheimischen und Touristen drei Mal in der Woche besucht wird. Öffentliche Toiletten und Duschen, die für je eine Lira nutzbar sind, tragen zur bezahlbaren Körperhygiene bei.
Tagsüber treffen sich syrischen Flüchtlinge, die weitestgehend aus Aleppo kommen, im Marina Hafen. Touristen erkennen syrische Männer an ihren rot-weiss-kartierte arabische Kopftücher, die sogenannten Kufiya (auch Kafiya oder KefijeDer arabische Begriff ist abgeleitet vom Namen der irakischen Stadt Kufa. Das Tuch wird von Arabern zum Schutz vor der Sonne getragen. Durch den Nahostkonflikt in Palästina bekam das Tuch die Bezeichnung „Palästinensertuch“. Syrische Frauen laufen entweder ganz in schwarz oder traditionell bunt gekleidet herum. Die Röcke sind lang und ein weiches Baumwolltuch schützt vor der Sonne.
Jetzt Mitte Oktober sind viele reiche Araber in Bodrum zu sehen. Sie wohnen gern im Hotel Jumeirah Bodrum Palace Resort (Torba) und freuen sich auf die bevorstehende Segelregatta. Am frühen Abend wenn es frischer wird, flanieren die arabischen Familien-Clans mit ihren nobel gekleideten Kindern durch teure Luxus-Geschäfte Bodrums und lassen zur Freude Verkäufer viel Geld da. Schwer bepackt kommen sie mit grossen Plastiktüten aus den Geschäften, während zur selben Zeit syrische Flüchtlingsfamilien mit selbst gebastelten Schildern Touristen auf sich aufmerksam machen: “Die Menschen aus Syrien brauchen Ihre Hilfe.”
„Nein, Araber haben uns noch nie eine Lira oder ein Brot gegeben. Die sehen uns gar nicht. Allerdings sprechen wir sie auch nicht an. Wir wissen ganz genau, dass wir tatsächlich nur bei den Touristen ein paar Lira erfragen können. Sie zeigen Mitgefühl. Nicht alle. Aber die meisten. Die Restaurants spendieren uns schon mal eine warme Mahlzeit. Auf dem Bazar bekommen wir Obst und Gemüse geschenkt, das die Bauern normalerweise abends wegwerfen würden. Abends sitzen wir mit unseren Familien am Wasser und versuchen ein paar Fische zu bekommen – mit einer einfachen Schnur und Brot dran. Das funktioniert inzwischen ganz gut. Wir suchen uns dann einsame Plätze an Gümbets Strand, wo wir niemanden stören und machen ein kleines Feuer und grillen den Fisch über der offenen Flamme am Stock.”
Lächelnd zeigt der syrische Flüchtling Isa (42) einen Zettel auf dem steht: “Die Menschen aus Syrien brauchen Ihre Hilfe”. Die meisten Flüchtlinge halten sich tagsüber in Bodrums Hafen auf. Dort treffen sie auf die meisten Touristen, die sie um Geldspenden bitten. Manche verkaufen Tempotaschentücher oder 0,5-Liter Flaschen Wasser.
Aus der Not eine Tugend machen
Jamie Almurad (25) aus Aleppo erzählt mir, dass er mit seiner Frau Senner (22) und ihrem Baby Huyin (2 Monate) und Tochter Nattida (4) unbedingt auf die griechische Insel nach Kos und dann weiter nach Deutschland will: „Ich weiss, wie gefährlich die Überfahrt ist, aber wir haben in der Türkei gar keine Chance uns eine Existenz aufzubauen. Ich war mit meiner Familie in Istanbul, Izmir, Ankara und nun sind wir in Bodrum. Ein kurdischer Bauunternehmer hat mir Arbeit in Bodrum angeboten. Ich habe jetzt vier Wochen für den Mann täglich von 8 Uhr bis 18 Uhr gearbeitet und noch keine Lira gesehen. Egal wo wir hinkommen, wir werden ausgenutzt und dann vertrieben.” Er macht eine kurze Pause, nimmt sein Kind auf den Schoss und erzählt dann im gebrochenen Englisch weiter: „Wir sind inzwischen viel zu viele Syrier in der Türkei. Ich kann die Reaktionen unserer türkischen Brüder in den Touristengegenden verstehen, aber warum versteht denn keiner, dass wir nicht mit ansehen können, wie unsere Kinder durch Bomben getötet werden? Wir wollen arbeiten, Geld verdienen und ja, so bald in Syrien wieder Frieden herrscht, kehren wir zurück um unsere Städte wieder aufzubauen. Doch jetzt ist Krieg. Angela Merkel ist unsere letzte Hoffnung auf ein Leben in Würde und Anstand. Unsere Kinder haben hier keine Perspektiven. Die Schulen sind überfüllt in Bodrum. Aber auch in Izmir und in Istanbul. Es ist überall das Selbe. Wir sind auf der Flucht, damit unsere Kinder eine Zukunft haben werden.”
Wer Geld hat, wohnt im Hotel
In den letzten acht Wochen, durften Hotel-Besitzer in Gümbet, Bitez und Konacik beobachten, dass sie plötzlich für wenigstens fünf Tage bis zu 50 Buchungen von syrischen Flüchtlinge erhielten. Hotel-Besitzer Hasan R. sagt: „Anfangs hatten wir aufgrund der arabischen Sprache Verständigungsprobleme, aber die Syrier wussten sich zu helfen. Sie gingen einfach in ein Internet-Café und buchten die Zimmer online. So sparten sie auch noch Geld. 50 Personen buchten sich bei mir für eine Woche so ein. Gut gekleidete junge Menschen, viele von ihnen Künstler und Studenten, zwischen 19 und Anfang 40. Die meisten waren mit ihren Freundinnen oder Frauen unterwegs. Kinder waren nicht dabei. Sie bezahlten für das Doppelzimmer für eine Woche inklusive Frühstück 4o0 € – cash. Jeder von ihnen hatte einen gültigen syrischen Reisepass dabei aus dem hervor ging, dass sie aus Aleppo sind. Völlig unauffällig sonnten sie sich am Swimmingpool, assen Eis und tranken auch schon mal ein Efes Bier. Auf den ersten Blick wäre ich gar nicht darauf gekommen, dass das tatsächlich Flüchtlinge sind. Doch später erfuhr ich von zahlreichen Hoteliers-Kollegen aus dem Tümay-Hotel in Bitez oder dem Dilek Hotel in Gümbet, dass sie ähnliche Situationen wie ich erlebten. Da der Sommer finanziell eher schlecht für Bodrum war, freuten wir uns über solche zusätzlichen Buchungen. Die meisten von den besser gestellten Syrier warteten eine Woche im Hotel, ehe sie einen Schlepper fanden, der für sie eine Überfahrt auf die griechische Insel Kos organisierte. Pro Person soll so eine Tour zwischen 500 und 1000 € liegen. Viel Geld für Flüchtlinge, die bereits alles in ihrer Heimat verloren haben und auf der Flucht sind. Ein normales Ticket hin- und zurück mit der Bodrum-Fähre kostet gerade mal 40 €.
Das brutale Geschäft von Schlepper-Banden mit der Not der Flüchtlinge
Jeden Tag spült die Ägäis kaputte Plastik-Boote an Bodrums zahlreichen Stränden. Dieses entdeckte ich am Camel Beach in Bodrum Ortakent.
Seit Jahresbeginn flüchteten mehr als 450’000 Flüchtlinge auf griechische Inseln wie Kos, Lesbos oder Rhodos, die nur wenige Seemeilen vom türkischen Festland entfernt sind. Erst am Freitag, den 15. Oktober kenterte erneut vor der griechischen Insel Lesbos ein Boot. Dabei ertranken eine Frau, ein Kind und ein Baby bei ihrer Flucht nach Europa. Die drei Leichen wurden von Tauchern unter einem gekenterten Boot vor der Insel in der Ostägäis gefunden, wie das Schifffahrtsministerium in Athen gestern mitteilte. Die Küstenwache habe nach einer Warnung durch ein türkisches Patrouillenboot eine Rettungsaktion gestartet und 21 weitere Insassen des Bootes gerettet. Obwohl es nur wenige Kilometer vom türkischen Festland bis zu den griechischen Inseln sind, gibt es immer wieder tödliche Unglücke, weil die eingesetzten Schlauchboote oft überladen und nicht seetauglich sind.
Empörend ist so manches Einzelschicksal, wie das eines syrischen Regisseurs. Er floh mit seiner Frau und seinen beiden Töchtern, zwei Balletttänzerinnen nach Istanbul und dann weiter nach Bodrum. Er heuerte einen Schlepper an: „Ich zahle dir 4000 US-Dollar, wenn du meine Familie nach Kos fährst – aber allein. Wir nehmen niemanden anderen mit – aus Sicherheitsgründen.”
Die Überfahrt erfolgte nachts um 03.00 Uhr. Die griechische Insel Kos ist 19 Seemeilen von Bodrum entfernt. Nach eineinhalb Stunden erreichte die Familie die vermeintliche Insel. „Der Steuermann schlug mir brüderlich auf die Schulter und sagte mir: „Ihr seid in Europa! Willkommen auf der Insel Kos”, dann drehte sich der Mann um und fuhr mit seinem Boot davon. Wir verbrachten die Nacht am Strand. Morgens gegen 7 Uhr wurden wir wach und machten uns auf den Weg Richtung Hafen. Überall vernahmen wir die türkische Sprache, da fragte ich eine Passantin: „Wo sind wir hier?” Die Dame antworte: „Herzlich Willkommen, Sie sind in Bodrum-Gümüşlük.” Ein böser Streich! Gümüşlük hiess früher Myndos und war tatsächlich griechisch, aber das liegt 4000 Jahre zurück!
Wie bewältigt Bodrum diese enormen Flüchtlingszahlen? Und wie gehen die Türken tatsächlich mit den Syriern um?
Weltweit nimmt die Türkei die meisten Flüchtlinge auf – von Fremdenfeindlichkeit ist trotzdem keine Spur. Die Hilfsorganisatorin Ayça berichtet, wie sie in Bodrum den Ansturm wahrnimmt und wie sie sich gefordert fühlt.
Deutsche Behörden stöhnen seit Wochen unter den anhaltenden Flüchtlingsströmen aus Syrien, Afrika, Irak und den Balkanstaaten. Bis zu einer Million Asylbewerber sollen bis Ende 2015 nach Deutschland kommen – fünfmal so viele wie im vergangenen Jahr. Doch das ist im Vergleich mit der Türkei noch immer wenig: Das Land nimmt weltweit die meisten Flüchtlinge auf: Rund 21 Flüchtlinge kommen dort auf 1000 Einwohner – in der Bundesrepublik sind es drei. Rund zwei Millionen Syrer sind Schätzungen der Vereinten Nationen zufolge in das benachbarte Land geflüchtet.
Gründerin und Leiterin der Hilfsorganisation in Bodrum Ayça Kubat und Volontärin Jacqueline Jane Bartels im Interview für den Blog Allaroundturkey.
Ich treffe die 32-jährige Ayça Kubat, die Gründerin der Hilfsorganisation für syrische Flüchtlinge in Bodrum Yahsi in einem Café.
Allaroundturkey: Ayça, deutsche Bundesländer sind an die Grenze ihrer Kapazitäten angelangt, um Asylbewerber vernünftig zu helfen. Wie sieht das in Bodrum aus?
Ayça Kubat: Anfangs nahm die türkische Bevölkerung die Flüchtlinge herzlich auf, doch ab Mai durfte ich aufgrund der immer grösser werdenden Flüchtlingsströme beobachten, dass die Stimmung kippte. Die Saison begann in Bodrum und so fühlten sich viele Türken, aber vor allem Touristen gestört – manche von ihnen so gar belästigt. Grundsätzlich ist es aber so, dass wir Türken sehr bemüht sind, Syrier willkommen zu heissen. Inzwischen hat sich Bodrum auf die Syrer eingestellt, sie gehören zum Stadtbild dazu. Das heisst aber noch lange nicht, dass es sinnvolle Hilfsprogramme für Syrer gibt! Hier fehlen sinnvolle Massnahmen der Regierung in Ankara.
Allaroundturkey: Das türkischen St. Tropez an der Ägäis hat eine gesunde Wirtschaft. Wieso gründeten Sie eine Hilfsorganisation?
Ayça Kubat: Das stimmt, allerdings übersteigt die hohe Zahl der Flüchtlinge Bodrums Kapazitäten. Fast 250’000 Syrer sind seit Mai bis heute nach Bodrum gekommen. Die meisten davon sind auf die griechische Insel Kos geflüchtet. Es gibt keine präzisen Statistiken, wie viele Syrier tatsächlich inzwischen dauerhaft in Bodrum leben, da sich die meisten Flüchtlinge in Bodrum nicht registrieren lassen. Viele von ihnen sind weiterhin nur auf der Durchreise. Aktuell leben die wenigen Syrier, die noch in Bodrum sind, auf Parkbänken auf dem Busbahnhof oder in Bodrums Hafen, in leerstehenden Geschäften oder Hotels –Bauruinen ohne Toiletten und fliessend Wasser in Turgutreis, Gümbet und Konacik. Die türkische Regierung hat die internationale Gemeinschaft um Hilfe gebeten, weil sie die Situation nicht mehr alleine bewältigen kann. Doch hier in Bodrum erreicht uns nur bedingt Hilfe. Deshalb sah ich es als meine Menschenpflicht an, Care Packages for Syrian Refugees ins Leben zu rufen.
Allaroundturkey: Was tut die türkische Regierung?
Ayça Kubat: Die Regierung zahlt Flüchtlingen rund 35 Lira pro Monat, das sind umgerechnet etwa elf Euro. Das ist selbst für türkische Verhältnisse sehr wenig Geld. Davon können die Migranten sich meist nicht einmal das Nötigste kaufen. Die meisten von ihnen haben keine Ersparnisse, weil sie im Bürgerkrieg und spätestens auf der Flucht alles verloren haben. Offiziell heisst es immer, dass syrische Flüchtlinge in der Türkei arbeiten dürfen. Das gilt aber nur, wenn sie sich registrieren lassen. Wer registriert ist, darf sich bei Krankheit im Krankenhaus behandeln lassen. Kinder dürfen die örtlichen Schule besuchen. Theoretisch klingt das gut. Doch die Wahrheit ist eine andere. Wer sein Leben neu organisieren will, der braucht ein zu Hause und genau das wird den meisten Flüchtlingen versagt.
Allaroundturkey: Wie funktioniert Care Packages for Syrian refugees?
Ayça Kubat: Das grösste Problem ist tatsächlich die Versorgung der Flüchtlinge. Sie brauchen Wasser und zu essen. Deshalb habe ich die Hilfsorganisation gegründet. Über eine geheime Gruppe auf Facebook rufe ich die Mitmenschen zur Mithilfe auf. Inzwischen haben wir rund 3700 Mitglieder. Wir erfahren weltweit Unterstützung. In Bodrum helfen uns Türken genauso wie Einwanderer. Das ist einfach fabelhaft. Wir mussten uns in den letzten Wochen zunehmend immer mehr organisieren. Nicht jeder kann uns seine Sachspenden nach Bodrum-Ortakent bringen. Wir brauchen freiwillige Fahrer, so genannte Volontäre, die die Waren abholen und uns bringen. Bereits ihr Zeit-Einsatz ist eine Spende, denn sie machen das unentgeltlich und tragen die Benzinkosten. Anfangs wurden wir von der türkischen Migros umfangreich unterstützt, doch die Zentrale in England hat dem Unternehmen jegliche Unterstützung verboten. Viele Mitglieder spenden Geld direkt an die METRO in Bodrum unter dem Stichwort Care Packages for Syrian Refugees in Bodrum, damit wir dann das einkaufen können, was die Flüchtlinge benötigen – ob Wasser, Bohnen oder gefüllte Weinblätter in Konservendosen.
Allaroundturkey: Bekommen Sie Unterstützung von Bodrums Regierung?
Ayça Kubat: Indirekt schon. Grundsätzlich ist es einfach so, dass Bodrum auf so viele Flüchtlinge nicht vorbereitet ist. Wir haben nicht ausreichend Kapazitäten in den Schulen, das heisst dass die meisten syrischen Kinder tagsüber keine Schule besuchen können. Anfangs wurden noch Kinder aufgenommen, aber inzwischen sind die Schulklassen völlig überlastet. Pro Klasse gibt es aktuell 48 Schüler. Es gibt auch zu wenige Lehrer. Die meisten Flüchtlinge, die in Bodrum bleiben, haben sehr schlechte Bedingungen. Im Sommer können sie bestenfalls als Gartenarbeiter oder Küchenhilfe arbeiten. Die Frauen sind meistens gar nicht einsatzfähig, weil sie sich um die Kinder kümmern müssen. Im Herbst sieht es mit den Arbeitsbedingungen besser auf, weil die Männer auf den zahlreichen Baustellen leicht einen Job finden. Doch das grösste Problem ist: Sie haben kein Dach über den Kopf. Hier wünschte ich mir mehr Unterstützung aus Ankara. Bodrum bekommt seine Anordnungen aus der Kreisstadt Muğla und die wiederum aus Ankara.
Allaroundturkey: Was heisst das im Klartext?
Ayça Kubat: Die Folgen der Flüchtlinge muss die Bevölkerung selbst lösen. Wir hatten in den letzten Monaten immer wieder die Situation, dass schlicht und ergreifend zu viele Flüchtlinge in Bodrum ankamen. Da genügte ein Anruf der Migrationspolizei in Muğla und schon wurden Busse geschickt, um die Flüchtlinge regelrecht einzusammeln. Sie wurden dann nach Izmir oder Istanbul gefahren. So lange wir den Flüchtlingen in unseren Städten keine Wohnungen zur Verfügung stellen können, so lange werden sie versuchen nach Europa zu türmen. Ein Dach über den Kopf ist die Basis für den Aufbau einer Existenzgrundlage. Daran krankt das System besonders. Das ist in der Türkei nicht vorgesehen, dabei haben wir vor allem in Bodrum unendlich viele Bauruinen. Sollten wir die Erlaubnis bekommen, eine Bauruine für Flüchtlinge ausbauen zu können, würden sich ganz schnell freiwillige Türken organisieren und dabei helfen, so ein Haus bewohnbar zu machen. Ebenso würde es genügend Sach- und Geldspenden geben, um das Baumaterial kaufen zu können. Davon bin ich überzeugt. Doch das ist nicht erwünscht. So bald wir uns zu viel engagieren, wird uns indirekt gedroht.
Allaroundturkey: Wieso bewegen Sie sich mit Ihrer Hilfsaktion am Rande der Legalität?
Ayça Kubat: Es gibt einfach gewisse Leute in der Politik aber auch in der Bevölkerung, die nicht wollen das die Syrier bleiben. Das passt nicht zum touristischen Bodrum. Allerdings ist unser Bürgermeister Mehmet Koçadon sehr sozial und liberal eingestellt. Sein älterer Bruder Mohammed hat uns zwei Lager kostenlos zur Verfügung gestellt, damit wir die Sachspenden trocken lagern können, die wir täglich zu den Flüchtlingen bringen. Zum Opferfest soll der Bürgermeister so gar rund 2.500 Care Packages gespendet haben.
Allaroundturkey: Spätestens im Dezember beginnt die Regenzeit in Bodrum. Gibt es Pläne, wie die syrischen Flüchtlinge untergebracht werden können?
Ayça Kubat: Da der Tourismus spätestens nach der grossen Segelregatta in Bodrum noch einmal deutlich kleiner wird, nehmen wir an, dass viele der Flüchtlinge in grössere Städte gehen wird, um dort bessere Überwinterungs- und Arbeitsmöglichkeiten vorfinden zu können. Wir gehen davon aus, dass wir über den Winter mit einer überschaubaren Flüchtlingszahl in Bodrum zu tun haben werden, für die wir auf privaten Wege Lösungen finden wollen. Es wäre toll, wenn wir hier gezielt Unterstützung aus der Bevölkerung bekämen. Vielleicht gibt es leerstehende Baracken, Pensionen oder Privat-Häuschen mit fliessend Wasser und Toiletten in denen die Menschen untergebracht werden könnten? Wer helfen möchte, darf sich gern an uns wenden.
Allaroundturkey: Wer versorgt die Flüchtlinge in Bodrum mit warmen Mahlzeiten?
Ayça Kubat: Auf unserer geheimen Facebookseite rufen wir täglich dazu auf. Zahlreiche Türken, Einwanderer und Restaurants unterstützen uns hier sehr jeden Tag.
Allaroundturkey: Welche nächsten Aktionen sind geplant?
Ayça Kubat: Ab Montag bereiten wir eine riesige Menge an Windeln, Babynahrung, Decken und Winterkleidung vor, um diese nach Suruç, eine türkische Kleinstadt an der syrischen Grenze, zu senden. Diese Sachspenden werden in den Flüchtlings-Camps in Suruç und in Kobanî (Syrien) verteilt, wo wieder viele Syrer eingetroffen sind. Ausserdem senden wir eine große Menge an Kleidung an die Izmir Buca Christuskirche. Wer Kleidung für syrische Flüchtlinge spenden möchte, soll sich unbedingt über unsere Facebookseite bitte melden. Ausserdem benötigen wir dringend Freiwillige, die bereit sind Kartons mit nach Izmir Otogar zu nehmen. Und wer in der Lage sein sollte, von Bodrum aus ein Busunternehmen aufzubieten, der diese Lieferung kostenlos nach Suruç übernimmt, der darf sich direkt an mich oder Katie über unsere Facebook-Seite wenden.
Allaroundturkey: Planen Sie aus der Hilfsorganisation einen Wohltätigkeitsverein zu gründen?
Ayça Kubat: Genau das setzen wir gerade um. Wir gründen einen Wohltätigkeitsverein aus Nächstenliebe. Wir wollen unbedingt den positiven und kraftvollen Schwung aller Menschen, die uns seit Monaten so fabelhaft unterstützen beibehalten, um Flüchtlingen in Bodrum, Izmir, Kusadasi und an vielen anderen Orten auch in Zukunft tatkräftig unterstützen zu können. Das Ziel unseres Wohltätigkeitsverein Charity ist es, Flüchtlingen, Obdachlosen und anderen Familien in Not zu helfen. Ich werde den Wohltätigkeitsverein leiten. Daher bitte ich alle Menschen überall auf dieser Welt darum, unseren Wohltätigkeitsverein auch weiterhin so eindrucksvoll zu unterstützen.
Allaroundturkey: Wem gilt Ihr grösster Dank?
Ayça Kubat: Einfach jedem Einzelnen, der unsere Arbeit in der Vergangenheit und heute unterstützt. Ein großes Dankeschön gilt allen Menschen, die Kleider schicken, warme Mahlzeiten spendieren, Sorgenpakete mit notwendigen Gegenständen kaufen, freiwillig Geld-Beiträge spenden. So gar Touristen nahmen Kontakt mit uns in Bodrum auf und brachten Geldspenden, Care Pakete mit Kleidung, Schokolade und Windeln vorbei. Gemeinsam haben wir über ein halbes Jahr direkte Hilfe und Unterstützung für tausende von Flüchtlingen auf in Bodrum leisten können. Das ist fabelhaft. Diese Form von Empathie beweist: Gemeinsam schaffen wir Unmögliches.
Wer helfen möchte, findet hier wichtige Hinweise:
Registered charities to donate to (1)