Bodo Kirchhoff. Widerfahrnis

kirchhoff_widerfahrnisReither gibt auf. Als etwa 60jähriger Verleger mit circa vier Büchern im Jahr erkannte er am Ende seines Berufslebens, dass es allmählich mehr Schreibende als Lesende gab (S. 10). Reither kann es sich leisten, plötzlich aufzuhören. Ein jüngerer Verleger müsste sich etwas Neues suchen. Reither kann sich einfach zurücklehnen. Die Seele baumeln lassen.

Dieser Reither ist auf sympathische Weise im Herzen und auch im Geiste jung geblieben. Auf eine wilde Art auch unvernünftig, raucht er leidenschaftlich gern filterlose Zigaretten und trinkt Rotwein aus Apulien – den er regelmäßig direkt dort kauft. Reither liebt seine Lederjacke und sein Feuerzeug, beides besitzt er schon ewig. Auch das hat etwas Jungenhaftes und führt dazu, dass ich Reither mehr und mehr sympathisch finde. Apropos, die Lederjacke! Sie ist gefüttert und hat viele Taschen, und es gab sie schon, als es noch kein Internet gab, solche Jacken werden heute gar nicht mehr hergestellt, weil sie zu lange halten (S. 35). Auch liebt er spontane Aktionen, was dazu führt, dass er eines Morgens im April das verschneite Weißachtal im bayerischen Allgäu in Richtung Süden verlässt – in einem BMW Cabrio. Denn da stand plötzlich Leonie Palm vor seiner Wohnungstür, wollte ihn eigentlich für einen Lesezirkel, dessen Organisatorin sie ist, gewinnen. Beide mögen sich sofort, rauchen und trinken zusammen. Eine absurde Idee ist geboren und am nächsten Morgen beginnt die Reise. Leonie im geblümten Sommerkleid mit Reithers Lederjacke. Ein Buch muss noch mit, ein Stange Zigaretten und eine Flasche Wasser.

Beide sind voller Glück und Abenteuerlust. Im alten Cabrio hören sie Musik über Radio oder Kassette. Wenn sie hungrig oder müde sind, machen sie kurz Stop. Diese Reise scheint ihnen nicht nur unglaublich gut zu gefallen, sondern auch verdammt gut zu tun. Losgelöst von allem – von alten Beziehungen, von Jobs, vom vergangenen Leben – steuern sie während dieser langen Autofahrt Richtung Ätna und ionisches Meer ruhig und gelassen auf ein ganz großes Gefühl zu. Wahrscheinlich spürten sie es bereits im kalten April-Matsch Deutschlands, brauchten aber erst die Sonne Siziliens. Ein verliebter Blick, langsam gesteigertes Begehren, rauschhaftes Glücksgefühl – in der Beschreibung dieser kleinen Momente ist Kirchhoff ein Meister. Er hat mit dieser Geschichte die Sehnsucht nach Ferne und nach Spontanität in mir neu geweckt. Einfach mal losfahren und alles Alte hinter sich lassen … aber geht das heute noch so unkompliziert wie vor 20 oder 30 Jahren? Ist das Bild vom romantischen Süden Europas vielleicht ein verklärter Traum? Diese Frage stelle ich mir am Ende des Romans.

Denn was als verrücktes Roadmovie beginnt, geht über in ein Abenteuer, das aktueller und zeitnaher kaum sein könnte. Der Schleier der Romantik zerreißt und plötzlich sind wir mit Reither und Leonie in diesem südlichen Europa. Zuerst sind da nur Schatten von flüchtenden Menschen, welche beide Reisende ignorieren können. Doch irgendwann stehen vor Leonie und Reither ein namenloses Mädchen ohne Eltern und ein Familienvater aus Nigeria. Und echte Hilfe ist gefragt. Spätestens an dieser Stelle der Geschichte zerplatzen alle romantischen Träume. Nicht nur die von Reither und Leonie. Auch als Leser ist man irritiert –

Für mich ist Widerfahrnis dennoch eine Liebesgeschichte, die berührt und eine alte Sehnsucht weckt. Auch wenn mich das Ende verstört hat, ich es so nie vermutet hätte. Aber ja, ist nicht genau so das wirkliche Leben?! Ein jüngerer Autor hätte diese Story vielleicht anders abgeschlossen. Mit mehr Hoffnung. Doch als nicht mehr ganz junge Leserin kann ich mich in Reither und ganz besonders in Leonie gut wieder erkennen. Und mit einer kleinen melancholischen Sehnsucht zurückfühlen in die Zeit der Mixtapes und des unendlichen Zigarettenrauchens.

Auch Marina von literaturleuchtet mochte die Geschichte von Reither und Leonie. Sie nennt es ein Vergnügen, die beiden als Leser zu begleiten. Ganz anders und eher kritisch bespricht Tobias Widerfahrnis auf buchrevier. Er findet dieses Buch wie aus der Zeit gefallen … Ja – altmodisch, so kommt es mir vor, beinahe hätte ich sogar Altherrenprosa gesagt.

Und weil ich ihm da ganz energisch widerspreche, hat sich zwischen uns beiden ein spannender kleiner Talk ergeben, den wir in wenigen Tagen veröffentlichen wollen.

Bodo Kirchhoff. Widerfahrnis. Frankfurter Verlagsanstalt. Frankfurt am Main 2016. 224 Seiten. 21,- €

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