Zensur, Netzausfall, Verhaftungen und Mord – auch 2012 ist die Vorstellung vom freien Internet in vielen Ländern eine Utopie. Das zeigt der “Freedom of the Net”-Bericht. Quelle: medien-luegen
Uneingeschränkter Zugang zu Informationen, freie Rede und ein ungehemmter Meinungsaustausch mit anderen Usern im Internet – das ist auch im Jahr 2012 in weiten Teilen der Welt nur ein Ideal. Die US-Nichtregierungsorganisation Freedom House kommt in ihrem Bericht Freedom of the Net 2012 zu dem Schluss, dass Regulierung und Zensur im Internet zunimmt und dass das Vorgehen von Regierungen gegen Blogger, Journalisten und Aktivisten immer brutaler wird.
Sowohl die Zahl technischer als auch die physischer Attacken gegen Onlinejournalisten, Blogger und andere Internetnutzer ist gestiegen. Vor allem Onlinejournalisten sind demnach stärker in den Fokus der Regimes gerückt. Gleichzeitig werden die physischen Angriffe brutaler.
Um freie Rede und Online-Aktivismus im Keim zu ersticken, werden kritische Inhalte von Regierungen häufig gefiltert und blockiert. Vermehrt ließen sie auch das gesamte Netz oder bestimmte Telefonnetze sperren. Etwa wenn Massenproteste stattfanden oder sich ankündigten sowie in Zeiten bestimmter politischer Ereignisse.
Die Kontrollmethoden von Regierungen werden dabei immer effektiver. In fast einem Viertel der untersuchten Länder engagierten die Regimes im großen Stil Blogger, die in ihrem Sinne Inhalte verbreiteten, Meinung machten und nationale sowie internationale Seiten auf regierungskritische Inhalte scannten und gegebenenfalls kommentierten.
Clean IT : Die EU-Kommission will das Internet überwachen und filtern, ganz ohne Gesetze
Europäische Internet-Anbieter sollen alle Internet-Verbindungen überwachen und bestimmte Inhalte herausfiltern. Das schlägt das Clean IT Projekt in einem internen Entwurf vor. Im Kampf gegen den Terrorismus sollen Firmen freiwillig ihre Geschäftsbedingungen verschärfen, am Gesetzgeber vorbei.
Bereits im Februar berichtete netzpolitik.org über das Clean IT Projekt. Finanziert von EU-Innenkommissarin Cecilia Malmström wollen Strafverfolgungsbehörden zusammen mit Providern und Filter-Herstellern “freiwillige Verhaltensregeln” aufstellen, um die “terroristische Nutzung des Internets einschränken” und die “illegale Nutzung des Internets bekämpfen”.
Dabei gibt es keine Definition der zu bekämpfenden “terroristischen” Inhalte. Es gibt kein klar identifiziertes Problem, das angegangen werden soll. Die Vorschläge gehen komplett an demokratischen und rechtsstaatlichen Prinzipien wie Gesetzen und richterlicher Kontrolle vorbei. Statt dessen sollen private Unternehmen ihre Geschäftsbedingungen anpassen, um unerwünschte Inhalte zu untersagen. Firmen sollen Inhalte nach Gutdünken entfernen, auch “eindeutig legale Inhalte”, ohne richterliche Anordnung oder Kontrolle. Die Privatisierung der Rechtsdurchsetzung schaltet in den Turbo-Gang.
Jetzt ist eine neue Version des Entwurfs aufgetaucht, die offenbar noch nicht für die Öffentlichkeit gedacht war. Die European Digital Rights (EDRi), ein Zusammenschluss von 32 europäischen Bürgerrechtsgruppen, hat jüngst ein vertrauliches CleanIT-Dokument ans Licht gebracht, das die EU-Bestrebungen zum Ausbau der Netzkontrolle beleuchtet.
In dem Dokument sind viele wirklich verrückte Vorschläge. EDRi hat die schlimmsten herausgesucht und aufgelistet, netzpolitik.org übersetzt:
- Schaffung von Gesetzen, dass Behörden auf Online-Patrouille gehen können, inklusive der (vermutlich anonymen) Teilnahme an Online Diskussionen
- Aufhebung von Gesetzen, die das Filtern und Überwachen der Internet-Anschlüsse mit Mitarbeiter/innen in Firmen verbieten
- Strafverfolgungsbehörden soll es ermöglicht werden, Inhalte entfernen zu lassen “ohne arbeitsintensive und formelle Verfahren wie ‘Notice and Action’”
- “Wissentlich” auf “terroristische Inhalte” zu verlinken, soll ebenso strafbar sein wie “die Terroristen”
- Schaffung rechtlicher Grundlagen für Klarnamenszwang, um anonyme Nutzung von Online-Diensten zu verhindern
- Provider sollen haftbar gemacht werden, wenn sie keine “angemessenen” Anstrengungen unternehmen, Überwachungstechnologien einzusetzen, um die (undefinierte) “terroristische” Nutzung des Internets zu identifizieren.
- Unternehmen, die Internet-Filter zur Verfügung stellen sowie deren Kunden sollen haften, wenn sie von Filtern festgestellte “illegale” Aktivitäten nicht melden
- Kunden sollen haften, wenn sie “wissentlich” etwas melden, das nicht illegal ist
- Regierungen sollen die Hilfsbereitschaft der Provider als Kriterium für die Vergabe öffentlicher Verträge verwenden
- Social Media Plattformen sollen Systeme zum Sperren und “Warnen” einsetzen. Einerseits ist es irgendwie illegal (undefinierte) Internetdienste für “terroristische Personen” zu erbringen, andererseits sollen bekannte illegale Inhalte zwar ausgeliefert, aber mit einer Warnung versehen werden.
- Die Anonymität von Personen, die (vermutlich) illegale Inhalte melden, soll gewahrt werden. Aber die IP-Adresse muss geloggt werden, damit man Leute verfolgen kann, die bewusst legale Inhalte gemeldet haben.
- Unternehmen sollten Upload-Filter einsetzen, damit einmal entferne Inhalte (oder ähnliche) nicht erneut hochgeladen werden können
- Inhalte sollen nicht immer entfernt werden, sondern manchmal nur vom Hosting Provider “gesperrt” und die Domain entfernt werden.
EU-Strafverfolger für “Binnen-Internet” nach Chinas Vorbild
Wären EU-Bürger besser vor Cyberkriminellen geschützt, wenn es eine Art EU-Intranet gäbe? Dieser Meinung scheinen Mitglieder der EU-Ratsgruppe Strafverfolgung für Justiz und Inneres zu sein. Die Law Enforcement Working Party (LEWP) ist demnach für europaweite Websperren, um damit ein virtuelles Schengen zu errichten. Ein entsprechender Vorschlag ist unter Punkt 8 im Protokoll einer LEWP-Sitzung (PDF) zu finden, das vor kurzem erst bekannt wurde. Durchsetzen sollen diesen “europäischen Cyberspace” die Internetprovider auf Basis von Blacklists.
Naturgemäß auf Ablehnung stößt die Idee beim Dachverband der österreichischen Internetprovider, der ISPA. “Es ist ein schlichtweg absurder Vorschlag, der jegliche technische und organisatorische Realitäten des Internets leugnet”, sagt deren Generalsekretär Andreas Wildberger.
Für den deutschen Arbeitskreis gegen Internetsperren und Zensur (AK Zensur) lässt hier “China grüßen”. Insbesondere die Tatsache, dass im Protokoll von vagen “unerlaubten Inhalten” die Rede ist, sei bedenklich und deute auf umfangreiche Sperrabsichten hier. “Es ist schon erstaunlich, wie viele Gremien immer wieder die chinesische Lösung für das Internet fordern”, schreibt der AK Zensur auf seiner Website. Als “Unsinn” und “Quatsch” bezeichnete der deutsche FDP-Abgeordnete Jimmy Schulz die Idee gegenüber Heise und Golem. Sie sei mit dem Freiheitsgedanken des Internet nicht vereinbar. Andere fürchten, dass hier ein System geschaffen werden könnte, an dem sich repressive Regimes auf der ganzen Welt orientieren könnten.
Quellen: Netzpolitik - Die Zeit - Die Presse - The Intelligence