Seitdem il Cugino Anfang Jahr aus Süditalien zu uns gezogen ist, bekommen wir hautnah mit, wie das läuft mit den billigen Arbeitskräften aus dem europäischen Ausland. Nämlich so: Einen Job finden sie sofort, der Druck, von Anfang 100 % zu arbeiten, ist gross und es braucht ziemlich viel Mut, zu tun, was il Cugino getan hat. Er hat nämlich darauf bestanden, nur Teilzeit zu arbeiten, damit er Zeit hat, intensiv Deutsch zu lernen. Der Vertrag ist auf ein halbes Jahr befristet, nach drei Monaten gibt’s eine bescheidene Lohnerhöhung, am Ende der sechs Monate wird das Arbeitsverhältnis beendet, auch wenn genügend Arbeit da wäre und der Angestellte gerne bleiben würde. Neue Einwanderer übernehmen den Job, die “Alten” ziehen weiter zur nächsten Stelle, denn so ist es für den Arbeitgeber am billigsten. Ein neuer Job ist schnell gefunden, manchmal rasend schnell. Ein Anruf kurz vor Mittag: “Können Sie in einer Stunde anfangen? Gut. Dann bringen Sie Ihre Papiere und die Sicherheitsschuhe mit. Wenn Sie Ihre Sache gut machen, gibt’s vielleicht eine längere Anstellung, sonst sicher mal bis Ende dieser Woche.”
Il Cugino denkt nicht im Traum daran, sich über diese Arbeitsbedingungen zu beklagen. Lieber so, als zu Hause in Süditalien in der Bar rumzuhängen und überhaupt keine Perspektive zu haben. Lieber müde sein vom Knochenjob, als lethargisch vom Nichtstun. Lieber ein Putzfrauenlohn, als mit 25 noch von den Eltern abhängig sein. Lieber in einem kalten, fremden Land leben, als dabei zusehen müssen, wie die eigene Heimat immer mehr vor die Hunde geht.
Il Cugino ist zu Recht stolz auf das, was er in weniger als einem Jahr erreicht hat. Seine Freunde in Italien beneiden ihn, können aber nicht ganz verstehen, warum er das alles auf sich nimmt. Ist doch viel bequemer, nichts zu tun und über den Staat zu lamentieren.
Die Schweizer, die il Cugino kennen, mögen ihn. So ein feiner Kerl, anständig, fleissig, freundlich und anpassungswillig.
Die Schweizer, die ihn nicht kennen, sehen in ihm eine Bedrohung. Noch so einer, der hierher kommt. Dass kaum ein Schweizer bereit wäre, so zu arbeiten, wie il Cugino es tut, bedenken sie nicht. Dass sie selber ihre Sachen packen und auswandern würden, wenn ihr Land ihnen keine Perspektive böte, können sie sich nicht vorstellen. Dass ihre eigenen Vorfahren das Gleiche getan haben wie il Cugino, als die Zeiten hier schlecht waren, wollen sie nicht sehen. Oder wenn sie es sehen, behaupten sie dreist: “Aber Amerika war nicht besiedelt damals. Meine Urgrosseltern haben niemandem etwas weggenommen.”
Die Schweizer fürchten sich vor einem jungen Mann, der sich dazu entschliesst, sein Glück dort zu suchen, wo er es am ehesten zu finden glaubt. Sie fürchten sich nicht nur, sie empfinden auch Wut. Ein ganz klein wenig kann ich die Wut nachvollziehen, aber diese Wut richtet sich gegen den Falschen. Wenn wir auf jemanden wütend sein sollten, dann auf die Unternehmer, die den Umstand, dass viele Menschen in ihrem eigenen Land keine Zukunft mehr sehen, schamlos ausnützen. Es ist nicht il Cugino, der die Löhne nach unten drückt. Es liegt nicht an ihm, dass die Firmen lieber billige Temporärstellen als teure Feststellen anbieten. Er kann nichts dafür, dass manche lieber Migranten einstellen, weil die für jeden Knochenjob dankbar sind und nicht aufbegehren, wenn sie wie Spielfiguren herumgeschoben werden.
Will man il Cugino wirklich einen Strick daraus drehen, dass er sich das klaglos bieten lässt, weil er einfach nur froh ist, überhaupt arbeiten zu dürfen?