Was, sie kennen das Wort Hyperlokalismus noch nicht? Dann könnten Sie einen der wirklich wegweisenden Netzwerk- und Medientrends des kommenden Jahres verpassen:
Nennen Sie es, wie Sie wollen. Hyperlokal, sublokal, local based oder wie auch immer. Einer der Trends für 2011 wird (…) das Thema “Lokales” sein. Also das, was in meiner direkten Umgebung geschieht, abgebildet, zu finden, zu bewerten – über das Internet. Das bedeutet dann: Hyperlokal.
Auch 10 Journalist/innen und Medienschaffende aus Prenzlauer Berg wollten den Trend auf keinen Fall verpassen und sind Anfang Dezember mit dem Projekt „Prenzlauer Berg Nachrichten“ (PBN) Online gegangen – natürlich auch irgendwie hyperlokal:
Prenzlauer Berg Nachrichten sind eine kleine, aber innovative hyperlokale Online-Lokalzeitung für den Prenzlauer Berg
Das Online-Medium selbst hat bisher einen begrenzten Informationswert für alle, die sich tatsächlich mit der Bezirkspolitik beschäftigen wollen, bietet aber einen prima Untersuchungsgegenstand für ethnologische Studien zu den diskursiven Raumaneignungsstrategien von Hinzugezogenen in Prenzlauer Berg. Die Themenauswahl und der Grundton der Berichterstattung wirken wie ein Spiegel der neu entstandenen Bildungsbürger-Enklaven. Von den bisher 17 Beiträgen in der Rubrik Politik beschäftigen mehr als die Hälfte mit den Themen der Schule und der Gehwegen in der Kastanienallee.
Die Macher/innen des Projektes sind den eigenen Angaben nach mit jeder Menge Berufserfahrung ausgestattet – trotzdem darf der Gründer der Prenzlauer Berg Nachrichten gegenüber SpiegelOnline eine irgendwie merkwürdiges Gründungsmotiv vorstellen:
„Die Berliner Blätter ziehen sich aus der Lokalberichterstattung immer mehr zurück“, sagt Philipp Schwörbel. Er lebt seit 2003 in Prenzlauer Berg, hat für Gesine Schwan gearbeitet, als die Bundespräsidentin werden wollte. „Ich wusste nicht, wer der Bürgermeister von meinem Bezirk ist und was der überhaupt macht“, sagt Schwörbel – in der Berliner Presse fand er keine Antwort.
Ich habe von Lokal-Journalismus nicht wirklich viel Ahnung, finde es aber merkwürdig, dass sich ausgerechnet die Leute dazu berufen fühlen, eine hyperlokale Stadtteilzeitung zu machen, die nicht einmal wissen wer gerade Bürgermeister im Bezirk ist.
Wie naiv darf Hyperlokalismus sein?
Die Form der selbstbewussten Naivität schlägt sich auch im sogenannten inhaltlichen Konzept nieder. Vier große Themenbereiche werden da vorgestellt:
Wie wollen wir hier zusammen leben? (Politik) Wie organisieren und gestalten wir hier sinnvoll unser Leben? (Leben) Wer sind wir und was machen wir hier überhaupt und ganz konkret? (Kultur) Womit verdienen wir das alles? (Wirtschaft)
Gut, (Hyper)Lokal-Journalismus sollte seine eigenen Ansprüche nicht mit gesellschaftspolitischen Fragestellungen nach den Machtverhältnissen überfrachten – aber angesichts der umkämpften Debatten um die Deutungshoheit der Stadtentwicklung der vergangen 20 Jahre von einem völlig naiven WIR auszugehen verwundet dann doch.
Aber vielleicht ist es auch zu viel verlangt ein Nachrichtenportal ausgerechnet an seinem Konzept zu messen. Dann eben doch ein Blick auf die inhaltlichen Beiträge.
In der Rubrik Alltag wird der bisher meistgelesene Beitrag empfohlen: Bötzow-Blues. Hinter dem Titel verbirgt sich eine ziemlich beleidigt klingende Legitimationsglosse eines Hinzugezogenen, der die Erinnerung an frühere Zeiten und Verlorenes offenbar als Angriff auf das eigenen Lebensgefühl interpretiert:
Peter Dausend schreibt über sein Lebensgefühl in Prenzlauer Berg und wie es ist, wenn man aus der Zeitschrift Geo erfährt, was einem dabei alles fehlt.
Die Selbstbeschreibung des Autors soll vermutlich selbstironisch klingen:
Peter Dausend, 47, arbeitet als politischer Korrespondent für die
Wochenzeitung DIE ZEIT. Der gebürtige Saarbrücker lebt seit 1993 in Berlin. Nach Stationen in Kreuzberg, Charlottenburg und Mitte wohnt er seit mehr als sieben Jahren im Bötzow-Viertel. Und zwar so, wie es sich gehört: mit Frau, zwei Kindern und jede Menge Milchschaum vorm Mund.
Die Kurzfassung seines Beitrags klingt ungefähr so: ihr wollt doch nicht ernsthaft den Zeiten von Gardinenspinnerei und SED-Bürgermeistern hinterher trauern.
Nein, wollen wir nicht und machen wir nicht. Woher dann aber die Aufregung?
Die oft empörte Abwehrhaltung gegenüber einer ostdeutschen Erinnerungskultur scheint mir der Ausdruck einer quasikolonialen Hegemonialstruktur zu sein, die versucht die faktische und praktische Aneignung des Raumes nachträglich auch noch symbolisch zu manifestieren. Seine Wohnung und seine Erinnerungen zu verlieren sei irgendwie nicht so dramatisch, mit dem Gerede darüber das gute Lebensgefühl anzukratzen, ist gemein… und muss irgendwann doch mal ein Ende finden.
Ein Kommentar von maxberlin unter dem Beitrag bringt es unfreiwillig auf den Punkt:
Wir schreiben das Jahr 2010 und ob einer nun Ostberliner ist oder von sonstwo zugewandert, sollte eigentlich keine Rolle mehr spielen. Ich spüre im Alltag nichts davon.
Vermutung eins: maxberlin ist eher von sonstwo zugewandert. Vermutung zwei: maxberlin lebt in Prenzlauer Berg und spürt im Alltag mangels Gelegenheit tatsächlich keine Ost-West-Unterschiede. Aber prima, dass es mit der Integration von Ostdeutschen in Prenzlauer Berg so unproblematisch geklappt hat und sie inzwischen abgeschlossen werden konnte…
„Nicht alles über einen Kamm scheren“
Sehr aufschlussreich auch ein kleiner Filmbeitrag „Das ist Prenzlauer Berg„. Prenzlauer Berg ist, „wenn jeder etwas anders darin sieht…“. Aha. Die Aufgabe der Hyper-Lokal-Journalist/innen scheint darin zu bestehen, ein bunte Kaleidoskop der Meinungen ganz wertfrei nebeneinander zu stellen. Film ab:
Kioskverkäuferin: „Zu 60 Prozent – sag ich mal – wohnen hier noch alte Leute, und die möchten hier aus dem Kiez nicht raus. Also vertrieben werden die nicht.“
Junge Mutter mit Kind: „Für mich bedeutet er immer noch ein guter Platz zum Leben, auch wenn er jetzt ziemlich teuer geworden ist, so dass wir wahrscheinlich auch nicht mehr so lange hier bleiben können“
andere Junge Mutter mit Kind: „Weil das einfach für schlechte Stimmung sorgt die Schwaben-Dresche, die permanente, die da gemacht wird. Das ist für die Neuhinzugezogenen unangenehm natürlich – und für die Verdrängten auch.“
Sie wundern sich, dass es gar kein Gejammer über steigende Mieten und Verdrängungsängste gibt? So banale Themen kamen in der Straßenbefragung auch nicht vor. Ein Interviewpartner hat trotzdem schon mal präventiv auf die formulierten Anti-Gentrification-Positionen geantwortet:
„Die Gegenfrage wäre ja später dann, warum hat man denn nicht den Prenzlauer Berg etwa hochwertiger entwickelt. Dann müsste man sich diese Frage aber auch gefallen lassen. (…)
Eine Veränderung hat immer auch was von Zahnarzt. Man muss halt hingehen, es tut dann weh und danach ist es dann aber auch gut.“
Das einzige heraushörbare Berliner Statement kommt von einem befragten Ordnungsamtsmitarbeiter, der den Wandel von Arbeiterviertel zum Schicki-Micki-Kiez beschreibt.
Ein eloquenter Herr mit Schal rückt aber die Weltsicht des neuen Prenzlauer Bergs gleich wieder zurecht und erklärt, das die Zeit der einfachen Wahrheiten nun doch wirklich vorbei sei und man nicht alles über einen Kamm scheren dürfe:
„Das ist ja auch das Interessante, dass es nicht wie früher in Berlin ein Arbeiterviertel gibt, ein Mittelstandsviertel und eins für die Besserverdienenden oder ein Villenviertel, sondern dass die sozialen Grenzen jetzt hier quer durch die Häuser laufen.“
Zur Erinnerung: Der Mann spricht von Prenzlauer Berg – dem sozial wohl homogensten Gebiet der Stadt.
Alles gar nicht ernst gemeint?
Kurzzeitig glaubte ich einer Satire aufgesessen zu sein. Ist etwa die Titanic mal wider unter falscher Flagge gesegelt und hat sich ausgerechnet Prenzlauer Berg als Medium des Spotts herausgepickt? Allein die Zusammensetzung der Redaktion klingt wie eine Ansammlung schlechter Klischees.
Die etwa zehn namentlich aufgeführten Redakteur/innen sind zwischen 28 und 47 Jahre alt, sind bis auf eine Ausnahme alle im Westen geboren und haben mindestens ein Studium absolviert. So ungefähr lesen sich auch die Sozialstudien in den Sanierungsgebieten. So ungefähr stellt sich da Feuilleton den Bionade-Biedermeier vor. Nicht nur, dass fast alle aus dem Westen zugereist sind, sie machen auch noch alle was mit Medien…
Sicher, dass die Redakteur/innen eines Zeitungsprojektes auch bisher alle was mit Medien zu tun hatten, sollte nicht weiter verwundern. Aber muss es denn immer gleich die Bertelsmann Stiftung sein und das Handelsblatt und die Süddeutsche Zeitung? Müssen Hyper-Lokal-Redakteur/innen in Prenzlauer Berg ein Creative-Village-Praktikum bei der taz hinter sich gebracht haben, als PR-Manager die Bundespräsidenten-Kandiatur von Gesine Schwan unterstützt haben oder im Bereich Literatur/Öffentlichkeitsarbeit für die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien Erfahrungen gesammelt haben…?
Ein Zugang zu verschiedenen sozialen Milieus, die Vorstellung verschiedener Perspektiven sind da eher nicht zu erwarten. So wie sich die bisherigen Beiträge lesen sind die Prenzlauer Berg Nachrichten vor allem eine Medium der Selbstvergewisserung eines bildungsbürgerlichen Aufwertungsmilieus. Der hochgelobte Hyperlokalismus droht so zum Hyper-Enklavismus eines sehr eingeschränkten Milieus beizutragen.