Beim Lesen von Fernando Pessoa (in Übersetzung): Immer wieder von neuem zutiefst beeindruckt von seiner traurigen Genialität. Ich kenne kaum einen Dichter, der – in poetischer Art – so tief in das Wesen der Dinge eindringt wie Pessoa – und der gleichzeitig so wenig darauf abzielt, in das Wesen der Dinge einzudringen. Ich kenne kaum einen Dichter, dem das Gewöhnliche, der Alltag Anlass für Gedankenflüge in atemberaubende Geisteshöhen ist und der doch im Alltäglichen Zuflucht sucht, um in diesen sauerstoffarmen Höhen nicht vorzeitig das Leben zu verlieren.
Ein Beispiel:
„Welch wollüstig [...], übersinnliches Vergnügen, bisweilen nachts durch die Straßen der Stadt zu streifen und von meiner Seele aus die Häuserzeilen zu betrachten, die unterschiedlichen Bauwerke, die architektonischen Details, das Licht in Fenstern, die Blumentöpfe, die jeden Balkon anders erscheinen lassen – welch unmittelbare, große Freude empfinde ich, wenn beim Anblick all dessen über die Lippen meines Bewußtseins der erlösende Schrei kommt: Nichts, nichts von alledem ist wirklich!“
Das Buch der Unruhe des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares; Übersetzung aus dem Portugiesischen: Inés Koebel, Amman Verlag 2006, S. 228